Mindestlohn – Goldene Regel oder Bulldozer?

„Jeder soll sich sein Frühstücksei leisten können“, sagte einst Bundeskanzlerin Angela Merkel, um zu verdeutlichen, dass sie bezahlbare Preise für Lebensmittel für alle Bevölkerungsschichten wünscht. Doch warum ist solch ein Satz überhaupt nötig? Offenbar braucht man ihn deshalb, weil es Arbeitnehmer gibt, die allein durch ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt nur schwer oder eingeschränkt bis gar nicht bestreiten können. Der Datenreport 2013 des statischen Bundesamtes belegt, dass trotz steigendem Durchschnittseinkommen die Armutsgefährdung in der Bevölkerung zunimmt. Als armutsgefährdet gilt dabei, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens bzw. des Medianeinkommens verdient. Für Singles liegt diese Grenze derzeit bei 952 Euro netto im Monat. Unterhalb dieser Schwelle befinden sich in Deutschland nicht weniger als 15,8 Prozent der Bevölkerung. Nicht zuletzt unter diesem Blickwinkel soll gemäß dem Koalitionsvertrag der Großen Koalition am 1. Januar 2015 bundesweit ein allgemeiner Mindestlohn in allen Branchen eingeführt werden.

 Arme sind dumm und tun nichts?

Armut darf nicht mit Arbeitslosigkeit gleich gesetzt werden. Es gibt mittlerweile rund 1,3 Millionen sogenannte „Aufstocker“, die trotz eines Beschäftigungsverhältnisses nicht in der Lage sind, vom erzielten Lohn den Lebensunterhalt zu bestreiten. Unter den zurzeit Betroffenen befinden sich sogar mehr als 350.000 Arbeiter und Angestellte mit einer Vollzeitbeschäftigung. Daher scheint die Frage wohl berechtigt, ob nicht das eine oder andere Unternehmen bewusst Lohndumping betreibt und Niedriglöhne zahlt, um damit im Wettbewerb mit Konkurrenten einen Vorteil bei den Lohnkosten zu erlangen – in dem Wissen, dass der Staat den betroffenen Beschäftigten unter die Arme greifen wird. Ein Mindestlohn kann also möglichen problematischen Anreizen der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen entgegenwirken, wenn er diese über eine einheitliche Lohnuntergrenze zu gleichen Wettbewerbsbedingungen zwingt. Ein Wettlauf der Gehälter nach unten, der für Lohndumping-Situationen typisch ist, wäre auf diese Weise ausgeschlossen oder zumindest erheblich erschwert.

Ein gutes Beispiel für eine solche heikle Situation ist das Postwesen in Deutschland. Der ehemalige Staatsmonopolist Deutsche Post, der tariflich gebunden war und ist, geriet nach der Briefmarkt-Liberalisierung unter Wettbewerbsdruck. Er schaffte es jedoch, über den von ihm dominierten Arbeitgeberverband Postdienste, einen branchenweiten Mindestlohn durchzusetzen, der allerdings am 28. Januar 2010 durch das Bundesverwaltungsgericht als rechtswidrig eingestuft wurde. Während das Urteil den Wettbewerb stärkte, zementierte jener allerdings den Lohndruck etwa im Bereich der sehr lohnintensiven Postzustellung. Diese Entscheidung geht sicherlich auch zu Lasten der Arbeitnehmer und erhöht bei diesen die Gefahr, dass sie aufstockende Leistungen beantragen müssen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Mindestlohn? Wir regeln den Lohn selbst! Das funktioniert am besten!

Ein allgemeiner Mindestlohn in Deutschland wirkt auch im gewissen Sinne der Problematik der Tarifflucht entgegen, die sich bei Arbeitgebern seit langem zeigt. Immer wieder wird von manchen Lohndiktatgegnern argumentiert, dass in Deutschland kein einheitlicher Mindestlohn benötigt werde, weil die Tarifparteien die Lohnsetzung untereinander und branchengenau erfolgreich zu  regeln wüssten. Wenn jedoch Unternehmen und fast komplette Branchen aus den Tarifverträgen ausscheiden, dann kann von einvernehmlichen Regelungen zwischen Tarifpartnern eigentlich nicht die Rede sein.

Ein Blick auf zwei erwähnenswerte soziale Aspekte spricht ebenfalls für die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns. Zum einen sind viele ohnehin schon benachteiligte Menschen aus schwachen sozialen Verhältnissen, darunter auch zahlreiche Zuwanderer, im Niedriglohnbereich beschäftigt und haben dadurch finanziell keine umfassende gesellschaftliche Teilhabe – zumindest könnte ein Mindestlohn diese Personen an die gesellschaftliche Mitte heranführen, zum anderen lässt sich vor dem Hintergrund des demografischen Wandels zukünftig mit einer stark zunehmenden Altersarmut rechnen. Da die Rentenzahlungen im teilhabeäquivalenten, deutschen Rentensystem von den früheren Erwerbseinkünften abhängen, bedeuten geringe Löhne in der Gegenwart auch geringe Renten im Alter. Dies ist ein Effekt, der durch Zeiten der Arbeitslosigkeit sogar noch verstärkt wird. Die Einführung eines Mindestlohns erhöht dagegen die Einkommen im Niedriglohnbereich, was zu höheren Beiträgen in die Sozialversicherungen führen wird und damit auch zu höheren Rentenansprüchen. Das Problem der zukünftigen Altersarmut wird daher mit großer Wahrscheinlichkeit abgemildert.

Insgesamt besteht hierdurch die Möglichkeit einer finanziellen Entlastung der Sozialkassen, weil die Kosten der Grundsicherung im Alter – gemeint sind die Rentenzahlungen an Menschen, deren Rentenanspruch unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegt – von der Logik her reduziert werden. Ein ähnlicher Effekt kann auch für die Gegenwart erwartet werden, da die ALG-II-Leistungen nach Überzeugung des Arbeitsmarktexperten des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Wilhelm Adamys, „deutlich reduziert“ werden. Allein die sozialversicherungspflichtigen Niedriglöhner, deren Einkünfte aufgestockt werden müssten, würden Bund und Kommunen im Jahr 2012 rund 3,9 Milliarden Euro kosten; davon entfielen 58 Prozent auf die Kosten der Unterkunft, die zumindest zum Teil eingespart werden könnten.

Wer will schon einen Mindestlohn?

Gute Beispiele für ein Funktionieren des Mindestlohnes gibt es in vielen Ländern der Welt, in denen dieses Instrument genutzt wird, ohne dass dadurch dramatische Wettbewerbsnachteile entstünden. Darunter sind u. a. vor allem die USA, Australien und die Niederlande zu nennen. Interessanter Weise gehört Deutschland zu den wenigen Ländern in Europa, die, obwohl es sich eigentlich gerne als recht fortschrittlich und voranschreitend ausgibt, keinen Mindestlohn besitzen.

Dabei lassen sich durchaus auch angesehene Befürworter des Mindestlohnes unter den Ordnungsökonomen finden, wie z. B. Walter Eucken, der das Eintreten einer „Anomalie auf dem Arbeitsmarkt“ nicht für ausgeschlossen hielt. Er argumentierte, dass das Gut „Arbeit“ nicht wie ein übliches Gut im Sinne eines neoklassischen Modells gesehen werden solle, da ein Arbeitnehmer in aller Regel keinesfalls über die Freiheit verfüge zu sagen, dass er bei einem aus seiner Sicht zu niedrigen Lohn sein Arbeitsangebot auf null reduziere. Dies sei ihm deshalb nicht möglich, weil er zum Überleben zwangsläufig ein positives Arbeitsangebot aufrechterhalten müsse, egal wie niedrig der Lohn ausfalle. Er reagiere also auf dem Niveau des Existenzminimums auf Lohnsenkungen sogar mit einer Ausweitung seines Arbeitsangebots, was durchaus als perverser Effekt bezeichnet werden kann, weil er die Ausbeutung der Arbeitnehmer erleichtert. Ein Mindestlohn schiebt dieser Gefahr daher im Idealfall einen Riegel vor.

Fazit

Insgesamt verdeutlicht die vorherige Darstellung, dass die Einführung eines Mindestlohnes gerade den Arbeitnehmern in den Niedriglohnbereichen nicht nur die Wertschätzung für ihre Arbeitsleistung zeigt, sondern auch die Finanzierung ihres Lebensunterhalts aus eigener Kraft erleichtert und der Gefahr einer drohenden Altersarmut vorbeugt. Darüber hinaus wird Unternehmern, die aus Lohndumping ihre Vorteile ziehen, der Anreiz genommen, dies zu Lasten des Staatshaushaltes zu betreiben, indem sie nicht mehr auf subventionierte Arbeitsplätze bauen können.

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