Wirtschaftspolitische Debatten in Deutschland sind zuweilen bemerkenswert. Bemerkenswert in zweierlei Sinne. Zum einen, da sie sich geldpolitisch in einer schon fast dogmenartig (leider oft auch mit dem Etikett „ordnungspolitisch“ versehenen) „deutschen“ Tradition bewegen, ganz gleich was auf den internationalen Finanzmärkten gerade so geschieht. Zum anderen, weil im Normalfall ihre Einschätzung der Lage nicht zwingend mit der Sicht der restlichen Welt übereinstimmt. Nun muss beides nicht bedeuten, falsch zu liegen. Aber es bedeutet eben auch nicht unbedingt, Recht zu haben. Aber der Reihe nach…
Vor ziemlich genau zwei Jahren hielt EZB-Präsident Mario Draghi in London seine berühmte Rede, in der er unmissverständlich klar machte, dass die EZB alles tun wird, um die Eurozone zu erhalten. Konkret kündigte er an, die – aus Sicht der EZB – ungerechtfertigt hohen Zinsspreads der Staatsanleihen der unterschiedlichen Mitgliedsländer der Eurozone näher zusammenbringen zu wollen. Seiner Ankündigung folgend beschloss der Gouverneursrat der EZB (pflichtschuldig mit der Gegenstimme des deutschen Bundesbankpräsidenten) das so genannte OMT-Programm (Outright Monetary Transactions-Programm). Begleitet wurde Draghis Manöver von einer Welle von Kassandrarufen aus Deutschland, EZB und Euro seien nach diesem Tabubruch endgültig dem Untergang geweiht und man hätte nur – zu einem überhöhten Preis – Zeit gekauft.
Was (den deutschen Unkenrufen zum nun drohenden Untergang des Abendlandes zum Trotz) Draghi und die EZB dagegen getan haben, war, den entscheidenden strukturellen Schwachpunkt des Euros zu beseitigen. Denn er hat klar gemacht, dass die EZB für den Euroraum der so dringend vermisste „lender of last resort“, also der Kreditgeber letzter Instanz (wenn kein privater Geldgeber einem Staat mehr sein Geld anvertrauen mag), sein wird. Diese Klarstellung war nötig geworden, da bislang für einen Staat, sobald er in die Eurozone eingetreten ist, ein implizites Insolvenzrisiko bestanden hatte. Während bei nationalen Zentralbanken wie der amerikanischen FED oder der Bank of England außer Frage steht, dass sie im Notfall bereitstehen und das staatliche Geldmonopol nutzen werden, um einen Staatsbankrott zu verhindern, war genau diese Gewissheit in der Eurozone nicht (mehr) vorhanden. Denn nach der Euro-Einführung bestand hier kein (national-)staatliches Geldmonopol mehr. Dies verursachte Unsicherheit und erklärt die Zinsentwicklungen im Euroraum, denn die Risiken eines Staatsbankrotts differieren zwischen den Ländern. Anders formuliert: Dies war der systemische Schwachpunkt der gemeinsamen Währung und weckte immer wieder Zweifel an ihrer Zukunft. Erst nachdem die EZB diese drängende und bis dato unbeantwortete Frage beantwortet hatte, wurden die Zinsen der Staatsanleihen im Euroraum wieder in realistischere Bahnen gelenkt – ohne den Kauf einer einzigen Staatsanleihe. Alleine durch die Beantwortung der Frage, ob sie im Zweifelsfall der „lender of last resort“ sein wird oder nicht.
Die (wohlgemerkt bloße) Ankündigung des unbegrenzten Ankaufs von Staatsanleihen dabei als ordnungspolitischen Sündenfall zu geißeln, zeigt zum einen die realitätsferne Wahrnehmung in der deutschen Debatte, auch und vor allem verkennt es aber den eigentlichen Zweck von Draghis Handeln. Denn Draghi hat durch seine Ankündigung vor allem ein entscheidendes Ziel verfolgt: ein irrationales Verhalten der Märkte zu beenden. Die völlig überzogene Überpreisung der Zinsen für Staatsanleihen aus den Peripheriestaaten findet nicht mehr statt. Er hat dadurch sichergestellt, dass das Grundprinzip der konstituierenden Prinzipien von Walter Eucken, dem Begründer der ordoliberalen Freiburger Schule, nämlich ein funktionierendes Preissystem, wieder hergestellt wird. Mario Draghi hat den Eurostaaten exakt die Position zurückgegeben, die jedes andere Land der Welt hat. Er hat es damit den Staaten ermöglicht, eine – hoffentlich ordnungspolitisch ausgewogene – Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die strukturelle Eurokrise zumindest ist seit Draghis Ankündigung beendet.
Moment einmal… Die Krise soll vorbei sein? Der Blick auf die jüngsten Wachstumsraten, Arbeitslosenzahlen oder die Staatsfinanzen in den Peripherieländern lasse darauf sicherlich nicht schließen, werden Kritiker entgegnen. Doch neben den Fundamentaldaten lohnt sich auch ein Blick auf die Anpassungsdaten der Peripherie, also auf den Stand der Strukturreformen. Und auf die der Kernländer. Basierend auf OECD-Daten erstellt die Berenberg Bank gemeinsam mit dem Think Tank Lisbon Council jährlich ein Ranking für beide Ländergruppen. Während bei den Fundamentaldaten erwartungsgemäß die Kernländer die vorderen Plätze belegen und die Peripherieländer die Schlusslichter bilden, zeigt sich im Anpassungsranking das genau spiegelverkehrte Bild. Nun mag das nicht verwunderlich sein, haben doch die Troika – oder die bloße Angst vor ihr – gewisse Anpassungen mehr oder minder erzwungen. Ein Blick auf die Rankings über die letzten Jahre hinweg zeigt jedoch deutlich, dass einem oberen Platz im Anpassungsranking auch ein oberer Rang im Fundamentalranking folgt. Und ein niedriger Platz im Anpassungsranking führte mit etwas Verzögerung unweigerlich zu einem hinteren Platz im Fundamentalranking. Gefährlich wird es insbesondere dann, wenn ein Land in beiden Rankings einen der hinteren Plätze belegt, so wie es beispielsweise bei Frankreich der Fall ist. Doch auch Deutschland arbeitet derzeit durch eine Rückabwicklung diverser Reformen und durch das großzügige Verteilen sozialpolitischer Wohltaten fleißig daran, nicht nur im Anpassungsranking sondern auch – als nahezu unvermeidbare Folge – im Fundamentalranking Plätze zu verlieren.
Wem es nun nicht genügt, die vorderen Plätze der Peripherieländer bei den strukturellen Anpassungen als Indiz für eine Erholung der Staaten im Süden Europas heranzuziehen, dem sei ein Blick auf einige aktuelle Wirtschaftsdaten empfohlen. Portugal, Spanien, Italien und selbst Griechenland übertreffen bei den jüngsten (und, da sie die Erwartungen widerspiegeln, besonders wichtigen) Daten zum Geschäfts- und Konsumklima fast alle Kernländer. Spaniens Wirtschaft wuchs beispielsweise im zweiten Quartal deutlich stärker als erwartet und selbst die jüngsten Turbulenzen einer portugiesischen Bank haben die dortige Wirtschaft bislang nicht ins Schlingern gebracht. Das Vertrauen in das dortige Krisenmanagement scheint vorhanden. Und dank Mario Draghi ist, wie sich an den Zinsen für Staatsanleihen zeigt, das Vertrauen der Finanzmärkte in diese Staaten zurückgekehrt. Trotz schwacher Daten aus den Kernländern ist hier das Vertrauen nach wie vor gegeben. Selbst ein Staatsbankrott Frankreichs wird – trotz verheerender Daten, politischer Lähmung und wenig Aussicht auf Strukturreformen – nicht erwartet.
Ist die Eurozone also über den Berg? Die verbleibenden Risiken für den Euro sind vor allem politischer Natur. In Griechenland drohen im kommenden Jahr Neuwahlen, sollte die Wahl des Staatspräsidenten scheitern. In Italien konnte Ministerpräsident Matteo Renzi zwar knapp die erste Hürde einer Verfassungsreform nehmen, Ankündigungen einer so notwendigen Arbeitsmarktreform bleiben dagegen bislang sehr vage. Und in Frankreich ist nach dem überraschenden Rücktritt der ersten Regierung des ambitionierten Premierministers Manuel Valls fraglich, ob die Regierung überhaupt noch über eine parlamentarische Mehrheit verfügt. In allen drei Staaten wäre das Ergebnis von politischen Verwerfungen und möglichen Neuwahlen ungewiss, gerade auch mit Blick auf extremistische Kräfte. Dies wäre zwar im Kern kein (geld-)wirtschaftliches Problem, doch Grundlage einer jeden Politikoption der EZB ist und bleibt der politische Zusammenhalt in Europa.
Die deutsche Debatte über die Politik der EZB und die Entwicklung der Eurozone war und ist weitgehend (und leider zu oft mit dem – hier eigentlich unpassenden – Etikett „Ordnungspolitik“ versehen) davon geprägt, dort Risiken zu sehen, wo keine sind. Man hat hierzulande die zentrale Systemlücke nicht nur nicht sehen wollen, sondern (im Übrigen bis heute) ihre Schließung kritisiert. Und auch die ständigen Zwischenrufe des Bundesbankpräsidenten, wie sich eine Geldpolitik der Bundesbank von derjenigen der EZB unterscheide, sind nicht nur nicht sonderlich hilfreich, sondern dürfen beispielsweise bei den jüngsten Äußerungen zum Thema Zinspolitik durchaus in Frage gestellt werden.
Die Gefahr der anhaltenden und weitgehend ungerechtfertigten Kritik aus Deutschland an der Politik der EZB liegt vor allem darin, dass auch in den Kernländern ein (wenn auch unwahrscheinliches) politisches Risiko existiert. Denn der politische Zusammenhalt – die Grundlage des Euro – kann auch von hier aus gefährdet werden. Doch all dies sollte die Eurozone nicht über Gebühr beunruhigen. Mario Draghis Ankündigung hat – wohlgemerkt ohne den Kauf einer einzigen Staatsanleihe – eben nicht nur Zeit gekauft, sondern die systemische Lücke der Eurozone geschlossen. Das Vertrauen der Investoren in die Peripherie ist zurückgekehrt. Anpassungen und Reformen in den Krisenländern erfolgen allen Unkenrufen zum Trotz auch weiterhin und sowohl Matteo Renzis Verfassungsreform als auch Manuel Valls Kabinettsumbildung können sich als Erfolg und wichtiger Schritt hin zu Strukturreformen herausstellen. Und durch eine nun beginnende Lockerung der Austeritätspolitik dürfte in den kommenden Monaten auch die Wirtschaftsleistung weiter zunehmen. Und während sich die Peripherie der Eurozone auf dem Weg der Erholung befindet, ist am deutschen Verfassungsgericht eine Klage gegen die Rolle der EZB in der geplanten Bankenunion anhängig. Wirtschaftspolitische Debatten in Deutschland sind eben zuweilen bemerkenswert.
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