Während alle Welt über selbstfahrende Autos oder 3D-Drucker staunt, deutet sich im Hintergrund der Digitalisierung ein weniger glamouröser, dafür aber umso fundamentalerer Wandel an: Technologische Innovationen werden unser Verständnis von Institutionen grundlegend verändern.
Im Herbst letzten Jahres demonstrierten in Hongkong tausende junge Menschen für freie Wahlen. Obwohl das Mobilfunknetz zeitweise zusammenbrach, konnten die Demonstranten problemlos miteinander kommunizieren, indem sie ihre Smartphones und die App „FireChat“ nutzten, welche ohne Mobilfunknetz- oder Internetzugang auskommt. Zur Informationsübermittlung nutzt die App die Bluetooth-Verbindungen der Endgeräte aus der näheren Umgebung und bildet so ein großflächiges Netzwerk. Durch dieses digitale Werkzeug, ein so genanntes Peer-to-peer Netzwerk (kurz P2P) blieben die Demonstranten unabhängig von Netzbetreibern und Sicherheitsbehörden. Systeme dieser Art sind nur ein Beispiel dafür, wie die Digitalisierung gleichzeitig auch mit einer Dezentralisierung von Macht einhergeht. Sie machen zentralisierte Institutionen – in diesem Fall die Netzbetreiber – überflüssig.
Institutionen und Macht
Institutionen sind in der volkswirtschaftlichen Theorie nicht nur physische Gebilde wie Ministerien oder Ämter, sondern auch und vor allem die Regeln, mit denen die Interaktionen verschiedener Individuen einer Gesellschaft strukturiert werden. Institutionen bündeln dabei vielfach auch Macht; und meistens ist das gut und richtig so. Schließlich wünschen wir uns, dass der Staat und die Gerichtsbarkeit unsere Rechte und Freiheiten garantieren und notfalls durchsetzen. Andererseits wünschen wir uns keinen Staat, der seine institutionelle Macht dazu missbraucht, systemkritische Demonstranten in ihrer Kommunikation zu behindern.
Eigentlich sollte das staatliche Machtmonopol durch verschiedene Mechanismen vor Missbrauch geschützt werden. Demokratische Prozesse wie Wahlen und Volksentscheide ziehen staatliche Institutionen und Entscheidungsträger zur Rechenschaft. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative verhindert die Konzentration von zu viel Macht an bestimmten Orten oder Personen. Und doch sehen wir uns heute in vielen Bereichen mit zentralisierten Institutionen konfrontiert. Das liegt daran, dass sich die Bereitstellung einiger Güter am effizientesten zentral regeln lässt, etwa im Fall von Netzindustrien, die „natürlichen“ Monopolen ähneln. So erfordert etwa der Betrieb von überregionalen Bahnverbindungen ein gut ausgebautes, landesweites Schienennetz. Eine solche Infrastruktur zu errichten, ist nicht nur sehr teuer und aufwendig, sondern führt auch dazu, dass sobald die Infrastruktur hergestellt ist, keine weiteren Wettbewerber in den Markt eintreten, denn es lohnt sich betriebswirtschaftlich nicht, ein zweites Schienennetz neben das bestehende zu bauen. Wegen des angenommenen hohen Nutzens für die Gesellschaft übernimmt der Staat den Bau des Netzes oder reguliert das Netz, so dass sich der Auf- und Ausbau einerseits lohnt und andererseits der Betreiber seine Monopolmacht nicht ausnutzen kann. So kommt es, dass man in Deutschland keine andere Wahl hat, als mit der Deutschen Bahn zu fahren.
Dezentralisierung und das Internet
Das Internet und die zunehmende Digitalisierung werden in vielen Bereichen zentrale Strukturen aufbrechen – oder haben dies bereits getan. Dabei kommen einem, wenn man an das Thema Macht im Internet denkt, erst einmal ganz andere Gedanken. Großkonzerne wie Google oder Facebook sind die Machtzentren unserer Zeit. Gerade der Alltagsnutzer kommt kaum um die Nutzung ihrer Dienste herum. Zu bequem sind die oft kostenlosen Angebote, wie der weltgrößte Instant-Messaging Service, Facebooks WhatsApp, oder Googles Videoportal YouTube. Bei beiden Angeboten handelt es sich um proprietäre Software, die Rechte und Verwendungsmöglichkeiten der Nutzer stark einschränkt. Die Quelltexte der Programme können nicht eingesehen werden und auch kostenlos sind diese Dienste nur auf den ersten Blick. Denn statt mit Geld zahlen die User hier mit ihren Benutzer- und Nutzungsdaten.
Doch die oben genannten Datenkraken sind nur eine Seite der Digitalisierung. Oftmals in Konkurrenz mit den etablierten Konzernen entstehen viele dezentrale Projekte mit dem Ziel, Alternativen zu den Angeboten ihrer zentralisierten Pendants zu bieten. Die Open Source-Bewegung bietet Software, deren Quellcode für jedermann einsehbar ist und an dessen Weiterentwicklung sich Programmierer aus der ganzen Welt beteiligen können. Längst bieten etwa Open Office oder LibreOffice kostenlose Programme, die den Vergleich mit den Softwarepaketen von Microsoft nicht scheuen müssen. Der Firefox-Browser wird auf vielen Computern anstelle von Internet Explorer oder Google Chrome benutzt. In einigen Bereichen, wie dem Smartphone-Betriebssystem Android, ist Open Source-Technologie sogar führend.
Doch die Dezentralisierung geht sogar noch einen Schritt weiter. Dank digitaler Technologie werden Güter, die bislang aus Effizienzgründen nur zentralisiert bereitgestellt werden konnten, für ein dezentrales Angebot erschlossen. Die bereits genannte Messenger-App FireChat benötigt dank des P2P-Netzwerks keine zentrale Institution wie ein Mobilfunknetz oder einen Netzanbieter. Auch die digitale Währung Bitcoin, ebenfalls basierend auf einer P2P-Technologie, ist dezentral organisiert und benötigt keine zentrale Institution wie eine Zentralbank zur Geldherausgabe. Die Markttransaktionen zwischen den Teilnehmern erfolgen ohne Geschäftsbanken als Finanzintermediäre. Sie werden stattdessen in der so genannten Blockchain, einem dezentralen Transaktionsverzeichnis, validiert und registriert. Bitcoin und andere digitale Währungen sind ein gut funktionierender und vielversprechender Gegenentwurf zu unserem aktuellen Geldsystem
Trusted Third Parties
FireChat und Bitcoin lösen beide mit Hilfe ihrer Technologie das institutionelle Problem der Trusted Third Parties (TTP), der vertrauenswürdigen Dritten. Eine solche dritte Partei ist eine Institution, die die Interaktion zwischen zwei Individuen kontrolliert und verifiziert. Beispielsweise agiert bei Überweisungen eine Geschäftsbank als TTP. Sie identifiziert den Sender und den Empfänger der Geldsendung, führt die Transaktion durch und registriert die neuen Kontobilanzen. Damit dient sie als Vermittler und Vertrauensinstanz für die beteiligten Parteien. Gleichzeitig verursachen TTPs jedoch Kosten für ihre Nutzer. Banken verlangen für Finanztransaktionen genauso Gebühren wie Mobilfunkanbieter für den Netzzugriff. Auch bündeln TTPs sehr viel Macht, was im Falle eines Missbrauches großen Schaden anrichten kann. Bis jetzt waren diese Strukturen zentraler Institutionen oft unumgänglich, doch P2P-Programme wie FireChat oder Bitcoin zeigen, dass und wie zentrale Systeme dezentralisiert werden können und damit Machtkonzentrationen verhindert werden.
In zentralisierten Systemen erfolgen Interaktionen zwischen den einzelnen Individuen immer über eine Vermittlungsinstitution wie die TTP. Dezentrale Systeme hingegen vernetzen die Parteien untereinander und ermöglichen die Kommunikation unabhängig von einer dritten Instanz. Die Infrastruktur für solche P2P-Netzwerke bieten das Internet und die zahlreichen vernetzten Endgeräte des Internets der Dinge. Zur eindeutigen Identifizierung der Individuen und Sicherstellung gültiger Transaktionen können dezentrale Register, wie etwa bei Bitcoin, genutzt werden. Da neue Einträge in die Blockchain jeweils von mehreren unterschiedlichen Knotenpunkten verifiziert werden müssen, hat keine einzelne Instanz die Kontrolle über das Verzeichnis und die Nutzer müssen ihr Vertrauen nicht in eine zentrale Institution setzen.
Ein Ausblick
Die Dezentralisierung wird in den kommenden Jahren immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft erfassen. Auch wenn sich viele Technologien noch in frühen, experimentellen Stadien befinden, so deuten sie doch fundamentale Veränderungen an. Von dezentralen Wahlsystemen bis hin zu dezentraler Cloud-Datenspeichern – fast alles lässt sich dezentralisieren.
Und dieser Trend scheint auch die Politik zu erfassen: Der CSU-Politiker und bayerische Finanzminister Markus Söder sieht eine Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung als eine Folge der Digitalisierung. Dank moderner Kommunikationsmöglichkeiten spiele der Standort von Behörden kaum noch eine Rolle. Stattdessen ermöglichten sie eine Regionalisierung der Verwaltung und eine aktive Strukturpolitik für ländliche Gebiete.
Auch die EU setzt bei der Unterstützung von Startup-Projekten im Rahmen der Digitalen Agenda auf Dezentralisierung. Die einzelnen Förderprojekte werden durch ein Open Source Software-Paket verbunden und sollen zusammen europäische Software global etablieren.
Das einzige, was die digitale Revolution – wenn auch wohl nur eine Zeit lang – aufhalten könnte, ist der Widerstand derjenigen zentralen Instanzen, die durch eine Dezentralisierung ihre Macht einbüßen werden. Doch zumindest im marktlichen Wettbewerb haben die dezentralen Alternativen aufgrund ihrer Effizienzvorteile die Nase weit vorne.
Kommentar verfassen