Am Vorabend des amerikanischen Sezessionskrieges sagte Abraham Lincoln: „A House divided against itself cannot stand.“ Ähnlich wie die damalige “American Union” ist die Europäische Union derzeit politisch in zwei Lager gespalten. Um diese Spaltung zu überwinden, müsste die EU dringend ihre institutionellen Probleme lösen, doch dafür muss sie zunächst wieder ein gemeinsames Haus werden.
Eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) unterteilt die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in zwei politische Lager. Auf der einen Seite stehen die Befürworter einer Stabilitätsunion und auf der anderen Seite befinden sich die Befürworter einer Transferunion. Beide Seiten machen konkrete, aber sehr unterschiedliche Vorschläge, wie die EU reformiert werden sollte.
Die Befürworter der Stabilitätsunion, wie zum Beispiel Deutschland und die Niederlande, wollen mehr Eigenverantwortung für die Nationalstaaten und fordern die Einhaltung der Maastricht-Kriterien. Diese Kriterien umfassen ein stabiles Preisniveau, stabile langfristige Zinssätze, stabile Wechselkurse und – vor allem – Obergrenzen für das öffentliche Defizit und den öffentlichen Schuldenstand der Mitgliedstaaten der EU.
Im Gegensatz dazu plädieren die Befürworter der Transferunion, deren wichtigste Vertreter Frankreich, Spanien und Italien sind, für mehr Solidarität. Sie setzen sich daher unter anderem für eine europäische Fiskalunion und Eurobonds, also gemeinsam von allen EU-Mitgliedsstaaten aufgenommene Schulden, bei denen die Staaten gesamtschuldnerisch für die Rückzahlung und Zinsen dieser Schulden haften, ein. Diese Anleiheform wird von den Befürwortern der Stabilitätsunion kritisch bewertet, da durch sie – so die Befürchtung – überschuldete Länder von einer Haushaltskonsolidierung abhalten werden könnten.
In der Europäischen Union befinden sich diese politischen Lager in einem Kräftegleichgewicht. Diese Uneinigkeit bringt jedoch den europäischen Reformprozess zum Stagnieren. Dabei sind weitere strukturelle Reformen zwingend erforderlich, ist der letzte große Reformvertrag doch bereits fast 10 Jahre alt.
In der öffentlichen Debatte wird erbittert über „mehr oder weniger Europa“ diskutiert. Dabei ist unstrittig, dass wir mehr Europa brauchen – aber nicht überall! Wichtige Kompetenzen, die die Mitgliedsstaaten auch in Eigenverantwortung entscheiden können, müssen auch bei diesen bleiben. Dies ist der Wesenskern der viel beschworenen Subsidiarität. Sie führt unmittelbar zur Idee des „In Varietate Concordia“, zu gut deutsch: in Vielfalt geeint. Nach diesem Prinzip der Vielfältigkeit sollte die Europäische Union eigentlich funktionieren!
Um aber an diesen Punkt zu gelangen, bedarf es eines großen Entflechtungsvertrags, durch den wichtige Kompetenzen wieder an die Mitgliedsstaaten zurückgegeben werden. Eine solche Rückbesinnung auf die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten würde unmittelbar den europäischen Rückhalt stärken. Im Gegenzug könnten dann Kompetenzen, wie zum Beispiel das Arbeitsrecht, an die Europäische Union übergeben werden, da diese im Binnenmarkt direkt relevant sind.
Seit Jahren versucht die Europäische Union, sich mit einem unstrukturierten Mischmasch aus Eigenverantwortung und Solidarität durchzubeißen und damit das Unvereinbare zu vereinbaren. Der derzeit diskutierte Vorschlag eines „Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten“ ist ein Ergebnis dieses Denkens und Handelns. Er ist aber keine Lösung, sondern nur das klare Eingeständnis, dass die Europäische Union geteilt ist.
Will aber die Europäische Union eine wirkliche Union mit einem Mehrwert für seine Mitglieder sein, dann muss sie ihrer Verantwortung gegenüber den Mitgliedsstaaten gerecht werden. Es braucht in Zukunft ein reformiertes, eindeutiges Regelwerk, das die Europäische Union endlich wieder in Vielfalt eint und die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten betont – und das so schnell wie möglich. Der Zeitpunkt für mutige Schritte in diese Richtung ist spätestens mit dem Brexit und den populistischen Herausforderungen in vielen Mitgliedsstaaten gekommen. Wie sagte schon Abraham Lincoln: “You cannot escape the responsibility of tomorrow by evading it today“.
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