Think Ordo!-Gastautor Daniel Gottal von der Universität München fragt sich, warum Walter Euckens sechs konstituierende Prinzipien, die in stürmischen Zeiten ein „wirtschaftspolitischer Sextant“ sein können, heute keine Rolle mehr spielen sollen. Er fordert nicht weniger als eine „hexagonale Charta“, inspiriert von Walter Eucken.
Wer kennt nicht das YouTube-Video Keynes vs. Hayek Rap Battle “Fear the Boom and Bust”? Fast sechs Millionen Aufrufe. Und Walter Eucken? Ohne eine konkrete Zahl zu nennen [weniger als Zehntausend] – jedes Video über Waschbären generiert ein Vielfaches mehr an Reichweite und Aufmerksamkeit. Wie kann das sein?
Mangelnde politische Aufmerksamkeit kann es nicht sein: War doch erst im Jahr 2015 der Mal-Wieder-Fast-Bundeskanzler-Kandidat Sigmar Gabriel zu Gast am Freiburger Walter Eucken Institut. Einer, der über jeden Verdacht erhaben ist, die Grundsätze der Wirtschaftspolitik auf dem Nachttisch – quasi griffbereit – liegen zu haben.
Alles begann mit dem Großen Abendländischem Schisma der Ökonomie im Jahr 1936. Hayek gegen Keynes, Austeritätspolitik gegen “Deficit Spending”. Zunehmend habe ich den Verdacht, dass die Liktorenbündelträger von heute Keynes‘ Allgemeine Theorie (1936) nie wirklich [selbst] gelesen haben.
Ich war so frei. Mein Bruder hat mir die erste Ausgabe für viel Geld zu meinem Geburtstag gekauft. Es ist schon richtig, dass Keynes zusätzliche Staatsausgaben in konjunkturellen Tieflagen empfiehlt, doch es ist ebenso seine Auffassung, dass selbige zusätzliche Ausgaben in wirtschaftlich besseren Zeiten wieder abgebaut werden müssen.
“Deficit Spending” ist in seinem Sinne also ein Konjunkturstabilisierungsmechanismus – kein alljährliches öffentliches Wachstumsprogramm. Wenn wir im Jahr 2017 – bald neun Jahre nach dem Beginn der Finanzkrise – über Haushaltskonsolidierung sprechen, scheint mir das ganz im Sinne von John Maynard Keynes zu sein, oder?
Zur Verteidigung der Post-Post-Post-Keynsianer: Selbst in den 1940er und 50er Jahren gab es schon keine “reinen” Keynsianer mehr. Der bekannteste Ökonom seiner Zeit war mit Sicherheit Paul Samuelson. Der Nobelpreisträger von 1970 vertrat schon damals einen weiterentwickelten keynsianischen Gedanken. Vorlesungen für Studenten in einem Masterstudiengang Ökonomie zum Thema “New Keynesian Framework” lernen mittlerweile eine Synthese. Der Gedanke von Hayek, welchen er in seinem Hauptwerk Preise und Produktion (1931) formulierte, dass Abweichungen vom allgemeinen Preisniveau – sprich Inflation – quadratisch steigende Suchkosten zur Folge haben, ist mittlerweile auch im “Mainstream” angekommen. Nobelpreise werden ja auch nicht verschenkt. So monolithisch wie in der Presse oft berichtet und zugespitzt wird, ist die Forschung längst nicht mehr: Man hat sich angenähert. Einseitig!
Ein Graben, der die verschieden Denkschulen noch immer teilt, ist die Mathematik. Kaum ein modernes Paper meiner Zunft, welches in den führenden Journals abgedruckt wird, verzichtet auf ökonometrische Modellierung oder mathematischen Modellbau. Die angesprochene “Annäherung” erfolgte daher auch nur versteckt und einseitig.
Ironischerweise war es Keynes selbst, der in seiner allgemeinen Theorie auf mathematische Modellierung verzichtet hatte. In den Fußnoten hat er uns aber Hinweise hinterlassen, in welche Richtung es gehen hätte können. Er tat dies aus Gründen der allgemeinen Verständlichkeit. Er wollte, dass sein Bestseller auch ein Bestreader wird.
Das heutige Kommunikationsproblem sieht wie folgt aus: Auf der einen Seite verzichten Ordos und Austrians auf die Mathematisierung ihrer Modelle und verwechseln Formalisierbarkeit mit Quantifizierbarkeit. Obwohl man etwas Konstruktives beizusteuern hat, beraubt man sich der Möglichkeit, aus eigener Kraft eine akademische Synthese anzustoßen. Auf der anderen Seite versteckt sich die Gegenseite gerne in ihren Elfenbeintürmen. Ihr Wissen ist zunehmend sehr exklusiv. Ohne sehr fundiertes quantitatives Rüstzeug [Doktoranden Niveau] können viele Arbeiten bereits gar nicht mehr gelesen werden.
Die angelsächsische Schule hat ergo ein ernstzunehmendes Kommunikationsproblem über Fachkreise hinweg, die “Deutsche Schule” hingegen ist innerhalb der eigenen Zunft isoliert. Was also tun?
Nimmt man einen einfachen arithmetischen Durchschnitt, so kann man etwa alle zehn Jahre mit einer Wirtschaftskrise rechnen. Daher wäre es sinnvoll, das Haus winterfest zu machen – und das geht mit ein bisschen Ordo ganz gut. Vernünftige Verkehrsregeln haben noch nie geschadet.
Das wirtschaftspolitische Sechseck von Walter Eucken eignet sich dazu Bestens. Es zeigt sechs Prinzipien auf, welche als Grundpfeiler einer Sozialen Marktwirtschaft gelten können: Konstanz der Wirtschaftspolitik, Haftung, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit und Primat der Währungspolitik (vereinfacht gesagt: stabiles Geld).
Es zeigt sich, dass besonders zwei Prinzipien – Haftung und stabiles Geld – im Vorfeld der Finanz- und Staatsschuldenkrise fahrlässig außer Kraft gesetzt wurden. Was der Ordoliberalismus leider nicht liefern kann [andere Denkschulen übrigens auch nicht], ist eine Antwort auf die Frage nach der Tragfähigkeit von Schulden. Das Domar-Modell (1944) – ein kleiner mathematischer Taschenspielertrick – gibt die langfristige Staatsschuldenquote (Schuldenstand/BIP) als Quotient aus Haushaltsdefizitquote und Wirtschaftswachstumsrate (nominal) wieder. Da die maximale Verschuldung aber eher davon abhängt, laufende Zinszahlungen zu bedienen, als irgendein hundertjähriger Konvergenzprozess, ist das Modell wenig hilfreich.
Auch die Ergebnisse von Kenneth Rogoffs und Carmen Reinharts Beitrag “Growth in a Time of Debt” (2011), bzw. ihr legendärer “Verrechner”, dass eine Schuldenstandquote von über 90 Prozent das Wirtschaftswachstum nachhaltig drückt, sind in der Frage der richtigen Haushaltspolitik wenig hilfreich („Ökonomie“ setzt sich dabei übrigens nicht zufällig aus oíkos “Haus” und nómos “Gesetz” zusammen – im Kern der Ökonomie geht es um die richtige Haushaltspolitik).
Auch wenn ich kein großer Bofinger-Anhänger bin – irgendwie hat er schon Recht, wenn er sagt, dass die schwarze Null kein sakraler Selbstzweck ist. Ist das erkaufte Wirtschaftswachstum durch neue Schulden größer als das dadurch entstandene Defizit – wird die langfristige Schuldenkonvergenz nach unten gelenkt.
Ein Witz meiner Zunft lautet ungefähr so: “Es gibt fünf Volkswirtschaften: Industrieländer, Schwellenländer, Entwicklungsländer, Japan und Argentinien”. Wenn auch unlustig – so ist dieses Bonmot sehr aufschlussreich, denn beide “Ausreißer” haben etwas mit verfehlter Ordnungspolitik zu tun. Das eine Land [Japan] hat mittlerweile eine Schuldenstandquote von 250 Prozent erreicht – ohne überhaupt annähernd Gefahr zu laufen, in eine Staatspleite zu schlittern. Das andere Land [Argentinien] “defaultet” – wie man so schön auf Neudeutsch sagt – alle paar Jahre bei nicht einmal 70 Prozent.
Der Zins macht den Unterschied. In seinem Grundlagenwerk formulierte Eucken – wie oben beschrieben – seine sechs Prinzipien Konstanz der Wirtschaftspolitik, Haftung, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit und stabiles Geld. Ich glaube, dass bei den Menschen die Bedeutung angekommen ist, welche Rolle das Prinzip Haftung in einem Finanzsystem mit hohem Leverage spielt. Auch wenn die Vorzeichen auf Tapering, also die Reduzierung des Anleihekaufprogramms durch die amerikanische oder Europäische Zentralbank, stehen: Geldpolitik der Zentralbanken ist noch immer eine ökonomische Versuchsküche.
Doch das Sorgenkind im hexagonalen Verbund sind spätestens seit diesem Jahr die offenen Märkte. Offene Märkte erhöhen die gesamte Wohlfahrt – doch Wohlfahrtsgewinne sind asymmetrisch verteilt – es gibt Gewinner und Verlierer. Märkte allozieren Güter nach Knappheit, nicht nach Gerechtigkeit. Gerade in politisch stürmischen Zeiten wird ein wirtschaftspolitischer Sextant – eine hexagonale Charta – mehr als je zuvor gebraucht.
Beitragsbild: wikipedia.org
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