Viele Ökonomen begrüßen, dass die Logik des Marktes in immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens vordringt, weil mehr Markt und Wettbewerb zu effizienteren Lösungen führten. Gerade die Ordoliberalen werden dabei als besonders marktradikal angesehen. Ein Blick auf die frühen Ordoliberalen Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke beweist das Gegenteil dieser weit verbreiteten Auffassung.
Leben wir in einer Welt, in der alles käuflich ist? Michael Sandel – einer der bekanntesten lebenden Philosophen weltweit – zählt in seinem Buch über „Die moralischen Grenzen des Marktes“ eine ganze Reihe von Beispielen auf, die das Vordringen von Märkten und ihrer Logik des Vorteilstausches in verschiedenste Bereiche des menschlichen Lebens aufzeigen. Angefangen bei der Bezahlung von Kindern für das Lesen von Büchern bis hin zur Austragung eines Embryos durch eine Leihmutter. Der Stellenwert von Märkten und Wettbewerb in unserem Alltag nimmt zu.
Für viele Ökonomen stellt dies kein Problem dar. Sie betrachten diese Entwicklung aus einem rein ökonomischen Blickwinkel: Märkte und Wettbewerb führen zu Effizienz und damit steigendem Wohlstand. Worin liegt also das Problem? Für Sandel liegt es vor allem darin, dass das Übergreifen von marktorientiertem Denken auf Aspekte des Lebens, die zuvor von moralischen Werten und Normen außerhalb des Marktes gesteuert wurden, zu einer Verdrängung ebendieser Werte und Normen führt. Die Marktwirtschaft als wirksames Werkzeug verkommt so allmählich zur Marktgesellschaft, in der alle sozialen Beziehungen marktgängig geworden sind. Eine Gesellschaft, in der nichts mehr heilig ist und in der sich alles nach dem Prinzip des selbstbezogenen Vorteilstausches richtet. Sandels internationale Beliebtheit beweist, dass seine Kritik in weiten Teilen der Öffentlichkeit Bestätigung findet.
Welche Position wird in diesem Zusammenhang vom Ordoliberalismus, etwa den Vertretern der Freiburger Schule oder anderen Zweigen dieser Denkrichtung, eingenommen? Eine international weit verbreitete Interpretation des Ordoliberalismus klingt in etwa so: Ordoliberale sind Marktfundamentalisten, die – immer, überall und unreflektiert – für mehr Markt und Wettbewerb eintreten, koste es was es wolle. Markt und Wettbewerb als Selbstzweck, sozusagen. Alles Weitere sei zweitrangig. Zwei Gegenbeispiele zeichnen ein anderes Bild: Alexander Rüstow (1885-1963) und Wilhelm Röpke (1899-1966).
Rüstow und Röpke gehören – neben den Freiburgern – zu den geistigen Vätern des Ordoliberalismus. Und keiner der beiden ging jemals von einem rein ökonomischen Standpunkt aus. Beide betonen ausdrücklich die fundamentale Bedeutung überwirtschaftlicher Werte, die den Zweck des Wirtschaftens bildeten, während der Wirtschaft selbst – und mit ihr Märkten und Wettbewerb – lediglich eine dienende Funktion zukommt. Märkte und Wettbewerb sind für sie Instrumente – wichtig, aber letztlich untergeordnet.
So treten sie denn auch für eine Begrenzung der ökonomischen Logik ein, indem sie mit Röpke einen „moralisch abgestumpften Ökonomismus“ ablehnen, „der kein Empfinden hat für die Bedingungen und Grenzen, unter denen wir den moralischen Grundlagen der Marktwirtschaft vertrauen dürfen“. Dem Vordringen marktorientierten Denkens in überwirtschaftliche Bereiche des Lebens stünden sowohl Rüstow als auch Röpke zweifellos kritisch gegenüber. So schreibt Röpke: „Es ist der wahre Fluch der Kommerzialisierung, daß hier das Überquellen des Marktes und seiner Maßstäbe auf Bereiche, die jenseits von Angebot und Nachfrage liegen sollten, die eigentlichen Ziele, Würden und Würzen des Lebens in einer Weise opfert, die (…) das Leben unerträglich häßlich, würdelos und langweilig machen muß.“
Der Vorstoß der Kommerzialisierung und des Marktdenkens in Bereiche des menschlichen Lebens, die vormals von der Logik des Marktes unberührt und durch nicht-kommerzielle Werte geprägt waren, ist durchaus besorgniserregend. Denn schlussendlich sind es gerade diese Werte, die ein menschliches und menschenwürdiges Leben entscheidend ausmachen. Die Ordoliberalen Rüstow und Röpke haben hierzu klar Stellung bezogen. Die Marktwirtschaft ist für sie ein wichtiges Werkzeug, aber mehr nicht. Eine Marktgesellschaft lehnen sie ab. Im Sinne eines menschenwürdigen Lebens, welches aus mehr besteht, als Konkurrenz, Markttausch und Konsum, sollten wir dies ebenfalls tun.
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