Die sich aktuell abzeichnende Wirtschaftskrise ist nicht das Resultat politischer Entscheidungen dieses Jahres, sondern ein Ergebnis unserer Lebensweise in den letzten Jahrzehnten. Die Krise war unvermeidbar und brauchte nur einen Katalysator. Haben wir nichts aus der Vergangenheit gelernt?
Als Resultat negativer Angebots- und Nachfrageeffekte infolge einer weltweiten Gesundheitskrise, der so genannten Corona-Pandemie, zeichnet sich eine schwere Wirtschaftskrise ab. Ein Blick in die Vergangenheit und auf die Theorie der Kondratieff-Zyklen legt jedoch die Vermutung nahe, dass die Gesundheitskrise lediglich der Katalysator für eine Wirtschaftskrise war, die zu diesem Zeitpunkt ohnehin unvermeidbar war.
Die Theorie der Kondratieff-Zyklen beschreibt, dass die Wirtschaft jeweils für ein paar Jahrzehnte von einer zentralen Innovation getrieben wird, bevor ein neuer Zyklus mit einer neuen zentralen Innovation anbricht. Ein Kondratieff-Zyklus hat dabei eine Dauer von 40 bis 60 Jahren und beinhaltet sowohl den Aufschwung als auch den Rückgang der treibenden Innovation. Bildlicher wird sie daher auch als „Theorie der langen Wellen“ bezeichnet.
Der aktuelle Zyklus, beginnend ab etwa 1990 und getrieben von Digitalisierung und Informationstechnologie, hätte demnach zwischen 2010 und 2020 seinen Höhepunkt erreicht und danach in einen beschleunigenden Abschwung gemündet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Höhepunkt des aktuellen Zyklus bereits kurz vor der Weltfinanzkrise der Jahre 2008-2009 erreicht wurde, worauf zunächst nur ein leichtes Abklingen folgte und wir aktuell in die Phase des stärksten Rückgangs eintreten.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass der Eintritt in diese Phase immer mit schweren Wirtschaftskrisen korrelierte. So kam es 1837 gegen Ende des Dampfmaschinen-Zyklus bereits zu einer ungewöhnlich schweren Depression. Insbesondere kam es aber ab 1873 im Eisenbahn- und Stahl-Zyklus mit der „Langen Depression“ sowie ab 1929 im Elektrotechnik-Zyklus mit der „Großen Depression“ zu schwersten Wirtschaftskrisen mit gravierenden politischen und sozialen Auswirkungen über die folgenden Jahrzehnte.
Dass es in den 1970er Jahren keine alles überschattende Krise gab, mag daran liegen, dass die Boom-Phase dieses Zyklus mit der weitgehenden Zerstörung von Wirtschaftsstrukturen im Zweiten Weltkrieg, also vornehmlich aus politischen Gründen, zusammenfiel. Dennoch war das Jahrzehnt von Krisen gezeichnet; auch die Ölkrise 1973 hatte nicht zu vernachlässigende Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Eine Wirtschaftskrise mit den destruktiven Konsequenzen, wie sie nur ein abklingender Kondratieff-Zyklus hervorzubringen scheint, liegt nun drei Generationen zurück und die Erinnerung schwindet. Sofern man allerdings dem alten Muster uneingeschränkt folgt, wäre eine Wirtschaftskrise mit einem zu 1873 und 1929 vergleichbaren Ausmaß gerade jetzt fällig. Wenn also die Suche nach Schuldigen für die wirtschaftliche Misere losgeht, sollte das Hauptaugenmerk auf unserer kollektiven Lebensweise der letzten Jahrzehnte liegen. Wir scheinen trotz allem Fortschritt entweder nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben oder die Lehren über die Jahrzehnte zu vergessen, um wiederholt dem gleichen Muster zu verfallen.
Die aufkommende Wirtschaftskrise ist nicht das Resultat kurzfristiger Entscheidungen als Reaktion auf eine Gesundheitskrise, sondern folgt aus der strukturellen Veranlagung. Es bedarf während des abklingenden Zyklus lediglich eines geeigneten Katalysators, um eine gravierende Wirtschaftskrise loszutreten. Es ist anzunehmen, dass die Gesundheitskrise zu einem anderen Zeitpunkt weniger drastische wirtschaftliche Effekte gehabt hätte. Daher stellt sich auch nicht die Abwägungsfrage zwischen Gesundheitsschutz oder wirtschaftlichem Wohlstand. Ein oder gibt es nicht. Die Krise wurde durch die Summe individueller Entscheidungen in einem bereits fragilen System ausgelöst. Zum Zeitpunkt politischer Entscheidungen war die kurzfristige Verbesserung des wirtschaftlichen Wohlstandes schon keine Alternative mehr. Damit bleibt lediglich die Frage nach Gesundheitsschutz ja oder nein. Ohne die Gesundheitskrise hätte ein anderes Ereignis die überfällige Wirtschaftskrise in Gang gebracht.
Mit einem Auslöser, der in der Vergangenheit liegt, wird es nun schwierig sein, die Krisensymptome von heute zu behandeln. Auf eine mehr oder weniger erfolgreiche Bekämpfung des momentanen, ersten wirtschaftlichen Schocks wird daher ein von Entschuldung und geringem Wachstum geprägtes Jahrzehnt folgen, in dem wirtschaftliche Ineffizienzen bereinigt werden. Dabei werden auch etablierte Unternehmen verschwinden. Das klingt gravierend, ist jedoch eine notwendige und wichtige Phase, um es der Wirtschaft zu ermöglichen, sich neu auszurichten, alte Lasten abzuwerfen und bereit zu werden für den nächsten Innovationssprung. In diesem Zusammenhang prägte bereits vor 80 Jahren der Ökonom Joseph Schumpeter den Begriff der „kreativen Zerstörung“.
Aktuell ist dies jedoch Zukunftsmusik. Zunächst wird es zu menschlichen Tragödien und politischen Umbrüchen kommen. Nichts davon sind unmittelbar gute Nachrichten und es wäre wünschenswert, mit dieser Prognose Unrecht zu behalten. Die Möglichkeit einer derartigen Entwicklung zu ignorieren, wäre jedoch leichtfertig. Daher ist es höchste Zeit, sich endlich konsequent mit dem Verhalten der Vergangenheit zu beschäftigen und aus ihm zu lernen, denn auch individuell und kurzfristig rationale Entscheidungen können sich Jahrzehnte später als kollektiv irrational erweisen. Es gilt, strukturelle und psychologische Ursachen der Krise zu identifizieren, um für den Beginn des neuen Zyklus eine flexiblere, selbsterneuernde Wirtschaft mit entsprechendem Anreizsystem für alle Wirtschaftsakteure bereit zu haben.
So könnte beispielsweise die verstärkte Ermutigung fundamentaler Innovationen anstelle nur kleiner Produktverbesserungen die Taktung von Basisinnovationen beschleunigen, um zwei parallele Zyklen entstehen zu lassen. Damit würde die Boom-Phase eines Zyklus den Rückgang eines anderen ausgleichen. Gesellschaftliche Ziele könnten weiterhin effizient verfolgt werden, allerdings ohne alle paar Jahrzehnte in einer großen Krise zu münden.
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