„Die Fahrscheine bitte!“ Was, wenn wir diesen Satz nie mehr hören in Straßenbahn oder Bus? Was, wenn wir mit Selbstverständlichkeit, aber ohne Fahrschein in jedes Verkehrsmittel einsteigen, das zum Öffentlichen Personennahverkehr gehört? Der sogenannte „Nulltarif“ wird als nicht finanzierbar und utopischer Vorschlag abgetan. Doch er ist möglich und vor allem notwendig, wenn Deutschland seine Klimaziele erreichen will.
Im Jahr 2018 forderte die EU von Deutschland, die Luft in den Städten müsse sauberer werden, sonst drohe eine Klage. Daraufhin hat die Bundesregierung einen ungewöhnlichen Vorschlag gemacht: den Nulltarif. Allerdings nur als Pilotprojekt in fünf ausgewählten Städten. Was die Bundesregierung in erster Linie vorschlug, um drohenden Fahrverboten zu entgehen, ist tatsächlich ein visionärer Vorschlag. Diesem lohnt es sich, deutschlandweit nachzugehen.
Finanzierung möglich machen
Ein Hauptargument der Nulltarif-Gegner ist die Finanzierung. Diese sei unmöglich, weil die Einnahmen durch den Ticketverkauf wegfielen. Die Stadt Hamburg hat vorgerechnet, dass es sie jedes Jahr etwa eine Elbphilharmonie, nämlich 830 Millionen Euro, kosten würde, den Vorschlag zu stemmen. Doch vergisst man leicht, dass der ÖPNV in erster Linie durch Subventionen finanziert ist. Weniger als die Hälfte des Geldes, das zur Kostendeckung benötigt wird, kommt aus Fahrscheineinnahmen. Dagegen machen Zuschüsse, Ersatzleistungen, Vertragsentgelte und ein Defizitausgleich den Großteil der Finanzierung aus.
Das komplexe Finanzierungssystem hätte eine Transformation nötig. Diese sollte als Chance genutzt werden, es ohne Fahrscheineinnahmen zu organisieren. Eine der Ideen, die Einnahmen auszugleichen, ist die Einbeziehung indirekter Nutznießer. Beispielsweise Immobilienbesitzer, deren Grundstückswert durch eine gute ÖPNV-Anbindung steigt. Diese müssten dann einen Teil ihres Vermögenszuwachses rückerstatten. Eine Finanzierung des Nulltarifs funktionierte auch, wenn Deutschland mehr Gelder in den ÖPNV statt in den MIV, den motorisierten Individualverkehr, investieren würde. Vorreiter ist Luxemburg, wo der ÖPNV komplett kostenlos ist. Dort fließen zwei Drittel der Investitionen im Bereich Mobilität in den Nahverkehr und nur noch ein Drittel in den MIV.
ÖPNV ist der neue Porsche
Das überzeugendste Argument ist grün. Ein PKW stößt bei einem Verbrauch von 7,2 Liter Benzin pro 100 km mit einem Fahrer 4,4 Kilogramm CO2 aus, während die gleiche Strecke mit dem ÖPNV nur 1,4 Kilogramm verpustet. Folglich ist die Verkehrswende nur möglich, wenn der MIV ab- und der ÖPNV zunimmt. Dazu reicht der Nulltarif nicht, der ÖPNV muss auch eine bessere Taktung, Bequemlichkeit und Sauberkeit bieten. Carsharing-Modelle oder Leihfahrräder könnten die letzten Kilometer zum Arbeitsplatz überbrücken. Eine Fahrt mit dem ÖPNV muss ein vergleichbares Gefühl der Freiheit und Planungssicherheit wie ein eigenes Auto bieten, nur dann haben Autofahrer einen Anreiz zum Umstieg. Der ÖPNV sollte sexy werden wie früher ein Porsche. Dieses Zusammenspiel von Maßnahmen würde den Nulltarif erfolgreich machen.
Was also steht dem Fahren ohne Schein im Weg? Die ökonomischen Voraussetzungen sind gegeben, es fehlt nur noch der Mut, mehr Gelder in den ÖPNV zu stecken als in den MIV. Eingegliedert in ein reorganisiertes Finanzierungssystem ist der Nulltarif ein wichtiger klimapolitischer Schritt und erhöht die Lebensqualität in staugeplagten Städten. Er sollte nicht nur als Ausflucht vor Fahrverboten vorgeschlagen, sondern als moderne Maßnahme umgesetzt werden.
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