Die neue soziale Frage

Dieser Beitrag wurde mit dem dritten Preis des 3. Think Ordo!-Essaywettbewerbs ausgezeichnet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brechen in der Bundesrepublik die „goldenen dreißig Jahre“ an. Aber das Modell, auf dem die Gesellschaft ihren Wohlstand aufgebaut hat, stößt an seine natürlichen Grenzen. Und sorgt für neue Herausforderungen…

Die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte ist eine Geschichte des Wachstums. Die wirtschaftliche Wertschöpfung übertrumpft sich Jahr um Jahr, erklimmt nie da gewesene Höhen, wird mehr, mehr und mehr. Gleichzeitig verbessern sich auf ungeahnte Weise die Lebensverhältnisse der vielen Millionen Menschen, deren Alltag zuvor von der Launenhaftigkeit der Lohnarbeit geprägt, ja abhängig war: längerfristige Einkommenssicherheit, ausgedehnte Bildungschancen, gesundheitliche Versorgung. Plötzlich ist da für die breite Masse mehr zur Verfügung als das Nötigste; etwas, das über die grundlegenden Bedürfnisse hinausreicht. Arbeiter winken dem Proletariat hinterher – ein biographischer Abschied –, sie sind jetzt Bürger.

Dass es so kam, lag maßgeblich daran, dass der Staat sich das Wohlergehen der gesamten Bevölkerung zur Aufgabe machte. Durch einen rechtlichen Rahmen gewährleistete er, was eine Marktwirtschaft allein nicht zwangsläufig bedingt: dass eine Mehrheit der Gesellschaft von den Wachstumsgewinnen zehren kann. Es ist die Geburtsstunde der „sozialen Marktwirtschaft“. Arbeitsschutz, Tarifrecht, Ausbildungsförderung, Sozialversicherungen und vieles mehr tragen dazu bei, die Lebenschancen mehrerer Generationen in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung gleichmäßiger zu verteilen. Wesentlich geprägt wurde das Konzept von dem Ökonomen Alfred Müller-Armack und dem ersten Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard. Ein historischer Kompromiss zwischen der Erzeugung größtmöglichen Wohlstands bei bestmöglicher sozialer Absicherung.

Bei aller (berechtigter) Lobpreisung – das Versprechen vom „Wohlstand für alle“ bedeutet (bis heute) natürlich nicht, dass alle gleichermaßen vom Wohlfahrtsstaat profitieren. Man denke nur daran, wie geschlechterungerecht manche Leistungen verteilt sind (etwa die Altersrenten) oder wie konsequent sich der Sozialstaat gegen Ansprüche nichtdeutscher Bürger_innen abzuschotten weiß. Beispielsweise mit abgesenkten Mindestleistungen für Asylbewerber_innen. Trotzdem: im Grunde ist der Wohlfahrtsstaat eine ziemlich populäre Einrichtung. Warum auch nicht, verwandelt er doch Wirtschaftswachstum mehr oder weniger zielstrebig in gesellschaftliches Wohlergehen. Das zumindest war und ist über Jahrzehnte hinweg die lebensweltliche Erfahrung vieler Wohlfahrtsbürger_innen – und genau hier liegt das Problem.

Wenn von weitsichtigen Unternehmer_innen bis hin zu Bezieher_innen von Sozialhilfeleistungen alle von den wohlfahrtsstiftenden Effekten profitieren, die auf einem stetigen Wirtschaftswachstum beruhen, dann herrscht bei der Frage über den Erhalt dieses Funktionszusammenhangs wie selbstverständlich eine große Einigkeit. Nicht umsonst warb die CDU bei der Europawahl 2014 mit dem Slogan: „Wachstum braucht Weitblick. Und einen stabilen Euro“; während die SPD sich stark machte für „Ein Europa des Wachstums. Nicht des Stillstands.“

Aber die Wachstumsformel, die lange Zeit so prächtig zu funktionieren schien, geht nicht mehr auf. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs in den 1950er Jahren – den Wirtschaftswunderjahren – um mehr als 8 Prozent pro Jahr. In den folgenden Jahrzehnten sanken die Zuwachsraten zunächst auf rund 4 Prozent in den 60ern, 2,6 Prozent in den 70ern, nur um dann in den 90ern nochmal auf 1,2 Prozent abzusinken. Das hat mehrere Gründe, der offensichtlichste ist jedoch: Je höher das BIP insgesamt, desto größer müssen die Zuwächse in absoluten Zahlen sein, um die Wachstumsrate konstant zu halten. Zwischen 2 Prozent BIP-Wachstum im Jahr 1970 und 2 Prozent im Jahr 2020 herrscht eben in absoluten Größen ein gewaltiger Unterschied.

Selbst, wenn man sich diese Erkenntnis vergegenwärtigt, sind die ungeheuren Mengen an Ressourcen, die jeden Tag verbraucht werden, um den globalen Wachstumsmotor weiter anzufeuern – ganz abgesehen von der Arbeit, die in vielen Teilen der Welt unter prekären Bedingungen geleistet wird –, höchstens ansatzweise vorstellbar. Angesichts dieser Tatsache erscheint die gesellschaftliche und politische Fixierung auf immer neue (positive) Wachstumsraten nahezu grotesk. Die meisten Folgen sind hinlänglich bekannt. Um zu begreifen, wie schlimm es um den Planeten steht, braucht es keinen weiteren Klimareport. Was soll es also kosten, bis wir die Nadeln lösen, mit denen wir an den Status quo gepinnt sind? Noch mehr irreversible Naturzerstörung? Die Demokratie?

Denn natürlich lauern diejenigen bereits, die unzufrieden sind, die sich nicht mehr aufgefangen fühlen in den brüchigen Netzen eines maroden Systems. Die sich entfremdet fühlen, weil ihre Lebensrealität ihnen klar vor Augen führt, dass ein Anstieg der Wirtschaftsleistung eben doch nicht, oder nicht mehr, gleichzusetzen ist mit dem Anstieg des individuellen Wohlstands. Ihr Protest manifestiert sich an den Wahlurnen, weil ihre Ohren empfänglich sind gegenüber dem bittersüßen Ruf der Populisten nach dem guten alten (Wirtschafts-)Nationalismus. Das Wohlfahrtsversprechen, es scheint für immer mehr Menschen seine Gültigkeit verloren zu haben. Die Bundesregierung, ja Regierungen in ganz Europa, lassen sich davon aber freilich nicht beirren; sie verharren weiter munter auf dem Wachstumspfad, der nur eine Richtung kennt, der eine Einbahnstraße ist. Alternative Ideen zerschellen am Argument der internationalen Konkurrenzfähigkeit.

Das Dilemma ist doch – und diese Unterstellung soll gestattet sein –: wahrscheinlich wissen die entsprechenden politischen Vertreter_innen selbst am besten, dass die Frage nicht lautet, ob es für immer so weitergehen kann. Sondern eher: wie lange noch? Und das Beharren auf ein „Weiter so“ daher rührt, dass es noch keine zufriedenstellende Antwort gibt auf zukunftsentscheidende Fragen wie: wie können Arbeitsplätze, Bildung, Renten und die medizinische Versorgung gewährleistet werden, ohne auf stetiges Wachstum angewiesen zu sein? Denn was passieren kann, wenn in diesem Wirtschaftssystem die Nabelschnur zum nährenden Wachstum unerwartet durchtrennt wird, das hat man beispielsweise an der Finanzkrise 2008 gesehen. Man wird es auch – vermutlich mindestens ebenso drastisch – an den Folgen des Corona-Virus zu spüren bekommen, das nicht nur Menschen, sondern auch Volkswirtschaften infiziert.

Das Versprechen vom Wohlstand für alle, der generiert werden soll durch immer größere BIP-Zuwächse, ist nicht zeitgemäß, es ist reaktionär. Ebenso wie das Verständnis, Wohlstand oder Lebensqualität als Summe der produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft zu betrachten. Bis jedoch der Zeitpunkt erreicht ist, an dem die Weltbevölkerung einen mehrheitlich zufriedenstellenden Kompromiss gefunden hat, sich von ihren folgenschweren Wachstumszwängen zu emanzipieren, ist es zumindest nötig, dem ökonomischen Wachstum als Bestandsgröße für Wohlstand und Lebensqualität einige zusätzliche Dimensionen zur Seite zu stellen.

Eine Neufindung des Wohlstandsbegriffs auf Grundlage einer umfassenderen Definition menschlicher Bedürfnisse ist überfällig. Zum Wohl der Akteure in ihr braucht eine Volkswirtschaft eine Kennzahl, die nicht nur ökonomischen oder technischen, sondern auch gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt abbildet. Denn neben befriedigten materiellen Grundbedürfnissen ist es ebenso wichtig, in einer Gesellschaft verankert zu sein, die sozial, solidarisch und ökologisch nachhaltig agiert und dabei selbstbestimmtes Handeln nicht einschränkt. Alternative Steuerungsgrößen dieser Art gibt es längst, etwa den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) oder den Happy Planet Index (HPI). Beide haben ihre Vor- und Nachteile, könnten jedoch einen Anhaltspunkt geben für eine mehr an menschlichen Bedürfnissen orientierte Politik sowie global verantwortungsbewussteres Wirtschaften.

Die Aufgabe eines Wohlfahrtsstaates wird es zukünftig sein, einen Wettbewerbsrahmen vorzugeben, in dem Formen des Wirtschaftens gedeihen können, die der (teilweise) rücksichtslosen Profitmaximierung andere Prioritäten wie zum Beispiel den Klimaschutz voranstellen. Spinnt man den Gedanken anhand dieses Beispiels fort, wird und darf es eine Welt des billigen Fleisches und Fliegens künftig nicht mehr geben. Mit der Konsequenz, dass ein Großteil der Mobilitäts- und Ernährungsgewohnheiten vieler Menschen grundlegend verändert und/oder nicht mehr finanzierbar wird, wird es folglich eine weitere Aufgabe dieses Staates sein, die durch neuartige Herausforderungen wie den Klimawandel zwangsläufig aufgeworfenen Fragen der sozialen Gleich- und Ungleichheit noch einmal völlig neu zu verhandeln.

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