Seit den 1950er Jahren prägt die Soziale Marktwirtschaft das wirtschaftliche und soziale Leben in Deutschland und ist dabei durchaus umstritten. Ähnlich ergeht es ihrem literarischen Rechenschaftsbericht, Ludwig Erhards Bestseller „Wohlstand für alle“, der mit seinem Lokalkolorit der 50er Jahre aus unserer heutigen Sicht vielfach antiquiert wirkt. Aber stellt das den Wert des Buchs pauschal in Frage? Lässt sich kein Wohlstand mehr aus dem „Wohlstand für Alle“ generieren?
Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild
Die Frage nach der Übertragbarkeit des „Wohlstands für Alle“ in die Gegenwart ist abhängig u.a. von der Tatsache, dass es sich nicht um ein wissenschaftliches Werk des Herrn Professor Ludwig Erhard handelt, sondern vielmehr um einen selbstbestätigenden Rechenschaftsbericht. Eine Aufzählung an Erfolgen und Fanbriefen, welche den kritischen Leser am Mehrwert dieses Buches zweifeln lassen.
Davon unbeschadet findet sich zwischen den Zeilen Erhards eigentliche Botschaft, die bis heute bestehen bleibt: Vor dem sozialen Ausgleich benötige man private Leistungsbereitschaft. Man könne nicht alles verlangen, aber selbst kein Risiko eingehen wollen. Und schlussendlich sei Wohlstand nur eine Grundlage, aber kein Altar, auf welchen Moral und Sozialbewusstsein geopfert werden sollten.
Wirtschaftsminister und -wunder
Die Soziale Marktwirtschaft war schon fast zehn Jahre alt, als „Wohlstand für Alle“ publiziert wurde, und laut Erhard kein Wunder, sondern ein Ausdruck der schnellen Anpassungsfähigkeit der Menschen an neue Gegebenheiten. Die einfache Bestätigung, dass Menschen gerne konsumieren und frei sein wollen. Für Erhard war Wohlstand, anders als heute, nicht nur Reichtum und Status, sondern auch Sicherheit und Stabilität.
Auch wenn unsere Städte nicht mehr aus Ruinen bestehen und wir nicht mehr unter der Aufsicht der Alliierten sind, so ist der Wunsch nach dem „Sozialen“ in der Marktwirtschaft groß. Denn bezahlbarer Wohnraum bleibt knapp und einige unserer Wirtschaftspartner kümmern die Menschenrechte wenig.
Herr Volkskanzler
Kritik kann verstanden werden, wenn sie realitätsnah ist. In einem Fernsehinterview sprach Ludwig Erhard im Jahr 1963 davon, dass die Menschen bereit sein müssten, sich innerhalb der Maße zu bewegen, welche durch die Realitäten des Lebens gesetzt sind. Er selbst dagegen gab sich zur selben Zeit seinen Wunschtraum hin, „Volkskanzler“ zu werden und scheitert in dieser Rolle. Sein „Wohlstand für alle“ ist eine Hommage an sich selbst und seine Erfolge. Man mag diese Selbstdarstellung und das Messen mit zweierlei Maß kritisieren, den Aufschwung durch das Jedermann-Programm und die Entstehung der Marke „Made in Germany“ lässt sich jedoch nicht leugnen.
Zurück bleibt nur Asche
„Wohlstand für alle“ überlebte Erhard und seine Nachfolger und erscheint 2020 zum wiederholten Male als Neuauflage. Die Botschaft ist deutlich: Die Soziale Marktwirtschaft ist ein zeitloser Klassiker mit viel Beweihräucherung, aber auch Zwischentönen. Letztere sollten in unserer heutigen Zeit wieder mehr Gehör finden: Weniger an Wunder als die eigene Leistungsbereitschaft glauben. Eine Politik, welche dem Menschen verpflichtet ist und nicht dem eigenen Wohlstand. Und schlussendlich die Abkehr von sozialer Selbstverständlichkeit, alles in Anspruch nehmen zu können. Unter diesen Gesichtspunkten behält Ludwig Erhard den Respekt, den er verdient, und wir erhalten die Rüge, die wir ab und zu benötigen.
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