Steigende Lebenserwartung und niedrige Geburtenzahlen – unter dem demografischen Wandel leidet insbesondere die Gesetzliche Rentenversicherung. Sie kämpft seit Jahren mit finanziellen Defiziten. Und während hier unten das Rentensystem langsam zu bröckeln beginnt, reibt sich Ludwig Erhard im Himmel triumphierend die Hände. Dass die dynamisierte Umlagefinanzierung keine nachhaltig sichere Altersvorsorge garantiert, war ihm nämlich schon immer klar. Ist die Rente noch zu retten, Ludwig?
Wie alles begann: Adenauer, Erhard und die Rentenreform
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Altersarmut weitverbreitet. Während die Renten niedrig waren und viele Ältere ohne familiäre Absicherung allein zurückblieben, stiegen die Preise und Löhne rasant an. „Wirtschaftswunder“ auf der einen und Verarmung auf der anderen Seite – das barg enormen sozialen Sprengstoff, den Bundeskanzler Konrad Adenauer mittels einer Sozialreform im Jahr 1957 zu entschärfen versuchte.
Die Idee: Die staatliche Rente sollte von nun ab eine echte Lohnersatzleistung sein – und nicht mehr nur eine kapitalgedeckte Zuschussleistung zu eigenen Ersparnissen und familiärer Absicherung. Das Problem: Inflation und Krieg hatten den Kapitalstock der Rentenversicherung größtenteils vernichtet und der Aufbau neuer Ersparnisse hätte zu lange gedauert, um die Kriegsgeneration mit solch einer „kapitalgedeckten“ Rente zu versorgen. So kam es zum berühmten „Generationenvertrag“, auf dem das deutsche Rentensystem bis heute basiert. Außerdem wurde das Rentenniveau an die Entwicklung der Bruttolöhne angeglichen, sodass auch die älteren Generationen am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben konnten, die so genannte Dynamisierung der Rente.
Nur wenige äußerten sich kritisch zu Adenauers Reformplänen. Darunter: Der damalige Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard. Er hielt das neue Rentensystem nicht nur deshalb für gefährlich, weil es stetig wachsende Bevölkerungszahlen voraussetzte, sondern auch, weil es die Entwicklung hin zu einem „Versorgungsstaat“ bedeutete, der auf Dauer weder finanzierbar noch vereinbar mit wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand sei.
Erhard oder Adenauer – Wem gibt die Wirklichkeit Recht?
Adenauer soll die Befürchtungen Erhards damals mit „Kinder kriegen die Leute immer“ abgetan haben. Da sollte er sich irren. Während die Geburtenzahlen in Deutschland heutzutage längst nicht mehr so hoch sind wie um 1950, nimmt die durchschnittliche Lebenserwartung kontinuierlich zu. Mehr Rentner und längere Rentenbezugsdauer der Renten münden in einem enormen Finanzierungsbedarf.
Allein im Jahr 2020 flossen 100 Milliarden Euro als Zuschuss aus dem Bundeshaushalt an die Rentenkasse. Das sind etwa 26 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes, ohne Änderungen könnten es im Jahr 2060 stolze 55 Prozent sein. Insgesamt steigen die Sozialausgaben des Bundes über alle Ministerien hinweg von 179,5 Milliarden Euro im Jahr 2020 auf mindestens 200 Milliarden Euro schon bis 2023.
Das klingt nicht nur ziemlich deutlich nach Versorgungsstaat, sondern kann, da sind sich wissenschaftliche Expertenkommissionen seit Jahren einig, auf Dauer auch nicht funktionieren. So appellierte jüngst der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums an die Politik, endlich Klartext zu reden und das System von 1975 schnellstmöglich zu reformieren. Wie könnte eine solche Reform aussehen?
Ist die Rente noch zu retten, Ludwig?
„Wer länger lebt, der kann auch länger arbeiten“ – so lautet die Empfehlung des Beirats. Dafür, dass es der gesundheitliche Zustand vieler Menschen nicht zulasse, länger zu arbeiten, oder die Arbeitsproduktivität ab dem fünften Lebensjahrzehnt beschleunigt abnehme, ließen sich keinerlei Belege finden. Objektiv sei also nicht ersichtlich, weshalb das Renteneintrittsalter nicht an die steigende durchschnittliche Lebenserwartung angepasst werden könnte. Dem hätte sicherlich auch Erhard zugestimmt. Immerhin befürchtete er schon seinerzeit, dass eine dynamisierte Rente ohne Kapitaldeckung langfristig zu teuer werden könnte – und das, obwohl die Rentenbezugsdauer damals im Schnitt läppische zwei Jahre betrug. Dass die Rentner von heute im Schnitt etwa dreizehn Jahre lang von der Rente leben, hätte Erhard bestimmt schlaflose Nächte bereitet.
Tatsächlich soll das Renteneintrittsalter nach geltender Gesetzeslage bis zum Jahr 2030 auf 67 Jahre ansteigen. Die Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit der Einführung der Rente ab 63 für langjährig Versicherte allerdings einen teuren Kontrapunkt gesetzt, der dringend beseitig gehört. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters stellt nämlich objektiv die wichtigste Stellschraube dar, um die Zukunftsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu garantieren.
Erhard käme darüber hinaus wohl zu dem Schluss: Unser Rentensystem ist nicht nur teuer, sondern auch ungerecht. Erstens sollte das Kriterium der Generationengerechtigkeit nicht nur in Sachen Klimawandel, sondern auch im politischen Diskurs um die Rente stärker beachtet werden. Aufgrund der zuletzt trotz oder wegen der Corona-Pandemie immer weiter gestiegenen Aufwendungen für die Rente im Bundeshaushalt wird künftigen Generationen eine immer größere Last aufgebürdet, obwohl sie weder für die Coronapolitik noch für die Kinderlosigkeit der Älteren verantwortlich sind. Außerdem sind es die Jungen, die letztlich darunter leiden, wenn der Staat finanzielle Mittel für die Rente aufwendet, die er auch in „Zukunftsthemen“ wie Klimaschutz, Digitalisierung oder die Energiewende hätte investieren können. Schließlich ist „Zukunftsvorsorge“ für das Gemeinwohl mindestens so wichtig wie Altersvorsorge – in der Politik wird das, vielleicht aus Angst vor dem ebenfalls alternden Medianwähler, oft unter den Tisch gekehrt. Diesbezüglich könnten sich sämtliche heutigen Politiker eine ordentliche Scheibe Erhard abschneiden: Er artikulierte seine Kritik an der, unter den Wählern sehr beliebten, Reform Adenauers offen und nicht aus Eigeninteresse, sondern aus politischem Verantwortungsgefühl.
Ungerecht – und ineffizient – ist unser Rentensystem auch deshalb, weil es die Bedürftigsten nicht ausreichend schützt. Dass 48 Prozent des durchschnittlichen Lebenseinkommens für Geringverdienende nicht mehr ausreichen, hat die Politik mit Einführung der Grundrente zwar erkannt. Diese liegt jedoch nicht bedeutend über dem Grundsicherungsniveau und greift erst nach 35 Beitragsjahren – damit fallen viele besonders Bedürftige von vornherein aus dem Raster. Hinzukommt ein generelleres Problem: Da arme Menschen nachweislich eine deutlich niedrigere Lebenserwartung haben als Reiche, erhalten sie auch deswegen (in der Summe) weniger Rentenzahlungen. Das System verteilt also „von unten nach oben“ – das kann nicht im Sinne der Politik und erst recht nicht im Sinne Erhards‘ sein, der schließlich nicht umsonst als „Vater der SozialenMarktwirtschaft“ gilt.
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