Zwischen Bionaden-Biedermeier und liberalem Selbstverständnis wird so manchem der Blick vernebelt. Der moralische Appell an Konsumenten ist das falsche Instrument für eine ethischere Wirtschaft. Wer glaubt, die Wirtschaft an der Einkaufskasse moralischer machen zu können, der irrt – auch die Autorin eines früheren Beitrags auf diesem Blog.
Die Rahmenordnung der Wirtschaft kann nicht durch die Konsumentscheidungen des Einzelnen bestimmt werden. Dies ist Aufgabe der Politik. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt hat den politischen Raum als den Ort identifiziert, an dem Gleiche untereinander über die Angelegenheit aller Menschen debattieren und gemeinsam handeln. Es wäre gefährlich, den Kaufentscheidungen und der Kaufkraft den Vorzug vor der Debatte und dem Stimmzettel zu geben.
Und es wäre auch unrealistisch, wie einige ausgewählte Zahlen leicht beweisen. Das deutsche Mediangehalt liegt bei rund 25.000 Euro pro Person im Jahr, d.h. die Hälfte der Deutschen verdient mehr und – vor allem – die andere Hälfte verdient weniger als diesen Betrag. Diese Menschen geben im Schnitt rund 13,8 Prozent ihres Haushaltseinkommens für Nahrungsmittel aus, wobei der Prozentsatz mit sinkendem Einkommen immer höher wird, weil der Grundbedarf auch bei niedrigem Einkommen gedeckt werden muss. Nach Wohnen und Mieten sind die Ausgaben für Nahrungsmittel bei den meisten Deutschen der zweithöchste Ausgabenposten. Der Hartz IV-Regelsatz liegt aktuell bei 416 Euro pro Monat.
All diese Zahlen geben eine Vorstellung davon, wie klein der Spielraum der meisten Menschen ist, ihren Konsum als Signal für moralische Billigung zu benutzen. Es darf angesichts solcher Einkommen gefragt werden, inwieweit jeder einzelne Kauf überhaupt ein Signal für eine, in den Augen des Käufers, moralische Unbedenklichkeit sein kann. Die seit langem zunehmende Lohnspreizung, also das Verhältnis der Einkommen von höheren zu niedrigeren Einkommensgruppen, spiegelt sich in einem großen Niedriglohnsektor und einem hohen finanziellen Druck auf die unteren Einkommensschichten wider. Möchten sie sich in einem Konsumbereich ethisch verhalten und das Konsumniveau ihres Umfelds aufrechterhalten, fallen sie nahezu immer in einen anderen Konsumbereich zurück. Dies verschiebt das unethische Verhalten, ohne das moralische Dilemma zu lösen.
Und selbst wenn das moralische Verhalten gelingt, ist es nicht doch nur eine moralische Illusion? Viele Menschen empfinden die Massentierhaltung als moralisch fragwürdig, wegen des Leids der Tiere und des hohen Einsatzes von Medikamenten, deren Rückstände in die Nahrungskette einfließen oder Resistenzen von Krankheitserreger befördern. Doch das wahre moralische Problem liegt auch in der zeitlichen Abfolge. Vor dem Leid der Tiere und dem Schaden durch die Resistenzen schützt nur eine Regulierung der Produktionsbedingung bevor das Tier leiden muss. Nur weil der Konsument sich „ethisch“ korrekt verhält und das Fleisch nicht kauft, lebt er noch lange nicht in einer besseren Welt, denn das Fleisch ist längst produziert und eine Industrie mit vielen abhängigen Beschäftigten geschaffen. Dieser Zustand lässt sich kaum ohne neue Ungerechtigkeiten beseitigen. Der Konsumverweigerer hat sich also nur scheinbar moralisch verhalten.
Unter normalen Marktbedingungen sollte das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage in freiwilligen Tauschverhältnissen bei zugeteilten Verfügungsrechten genau die Angebote erzeugen, die auch nachgefragt werden. Allerdings beruht ein unethischen Verhalten in einer Marktwirtschaft oftmals auf der Verletzung der Rechte eines dritten Akteurs. Dies kann ein Mensch, ein Tier oder eine Landschaft sein. Ein moralischer Appell richtet sich also immer nur an einen Käufer einer Ware, deren Herstellung in den Augen anderer die Rechte Dritter verletzt hat. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von einem „negativen externen Effekt“ und sehen darin ein Marktversagen. In einem solchen Fall ist eine Prüfung der bestehenden Rahmenordnung angebracht.
Auch wird bei einem reinen Marktfokus übersehen, dass die Aufklärung über ein bestimmtes Produkt im öffentlichen Raum stattfindet und deshalb ein von unterschiedlichen Interessen beeinflusster Prozess ist. Daher ist der Verweis auf das „moralische Konsumieren“ als Instrument nicht sinnvoll. Nur die Partizipation an der politischen Willensbildung versetzt den Bürger in die Lage, sich gegen zu weitgehende Appelle zu wehren und Rahmenordnungen zu gestalten, die den Genuss von Gütern ohne schlechtes Gewissen erlauben.
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