Ludwig Erhard, Mario Draghi und die Psychologie in der Wirtschafts- und Geldpolitk

„Whatever it takes“. Mit diesem Satz kündigte Mario Draghi im Jahr 2012 an, die Europäische Zentralbank (EZB) würde alles tun, um ein Zusammenbrechen des Euro zu verhindern. Im Anschluss fielen die Zinsen auf Staatsanleihen in den europäischen Krisenländern, ohne dass die EZB tatsächlich handeln musste. Dass Psychologie wirksam Geld- und Wirtschaftspolitik macht, erkannte ein Anderer schon kurz nach dem zweiten Weltkrieg: Ludwig Erhard.

Eines der zentralen Ziele des ersten Bundesministers für Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland war die Preisstabilität. In seinem 1957 erschienenen Buch „Wohlstand für Alle“ erläutert er seine Versuche, mit psychologischen Mitteln die Inflation zu bekämpfen: Durch Gespräche, Publikationen und öffentliche Auftritte versuchte er, Unternehmen und Arbeitnehmern Preis- und Lohnsteigerungen auszureden. Für einen Ordnungspolitiker verhielt er sich dabei ziemlich aktionistisch.

Er rechtfertigte diesen Aktionismus damit, dass die Wirtschaft „von Menschen getragen und von Menschen geformt“ werde und „nicht ein Eigenleben im Sinne eines seelenlosen Automatismus“ habe. Diese Einschätzung ist sehr zutreffend, insbesondere in Bezug auf Geldpolitik: Wie im Falle der Eurokrise des letzten Jahrzehnts spielt die Beeinflussung der Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer für Zentralbanken eine zentrale Rolle, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Auch während der Finanzkrise im Jahr 2008, aus der die Eurokrise entstanden ist, wurde deutlich, wie wichtig das Erwartungsmanagement für ein funktionierendes Wirtschaftssystem ist: Das Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel – „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“ – sollte eine mögliche Bankenpanik durch eine Beeinflussung der Erwartungen der Bevölkerung verhindern.

Wer Ludwig Erhards „Wohlstand für Alle“ liest, merkt schnell, was sein Plädoyer für Preisstabilität motiviert: die Angst vor Inflation. Die Hyperinflation des Jahres 1923 ist nicht nur der Grund für die Inflationsabneigung Ludwig Erhards, sondern ist im kollektiven Gedächtnis der deutschen Bevölkerung fest verankert. Erhard und andere Politiker der Nachkriegszeit haben diese Angst in der Bundesbank und der EZB institutionalisiert: So wie einst die Bundesbank hat heutzutage die EZB die Preisstabilität als oberstes geldpolitisches Ziel. Die Inflationsraten sind dementsprechend seit Jahren niedrig. Auch im Verbot einer Staatsfinanzierung durch Zentralbankgeld drückt sich die deutsche Angst vor Inflation aus.

Mit „Whatever it takes“ kratzte Mario Draghi 2012 an diesem Verbot: Er kündigte an, wenn nötig, zur Erhaltung des Euro Staatsanleihen aufzukaufen. Ganz in der Tradition Ludwig Erhards kritisierten deutsche Ökonomen diese Politik heftig. Unter anderem Bundesbankpräsident Jens Weidmann sah die Unabhängigkeit der EZB gefährdet, denn wenn eine stockende Reform- oder eine kurzsichtige Fiskalpolitik geldpolitische Entscheidungen der EZB erzwingen, die die Geldmenge ausweiten, ist langfristig die Preisstabilität in Gefahr.

Ironischerweise betrieb Mario Draghi mit psychologischen Mitteln à la Ludwig Erhard sehr erfolgreich eine Politik, die Ludwig Erhard selbst wohl zuwider gewesen wäre. Gottseidank, muss man sagen. Denn die deutsche Angst vor Inflation ist kein guter Ratgeber in einer Zeit, in der Deflation droht. Dennoch hat die von Erhard mitgeschürte Angst vor Inflation auch eine gute Seite: Sie sorgt mit dafür, dass die EZB vor einer Einflussnahme durch die Politik geschützt wird und unabhängig bleibt. Nur dadurch ist die EZB glaubwürdig genug, um effektiv Erwartungsmanagement betreiben zu können.


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