Die Dominanz des neoklassischen Mainstreams umhüllt die ökonomische Lehre wie ein nebliger Schleier – so dicht, dass manch einer Gefahr läuft zu erblinden. Warum wir eine pluralere Lehre brauchen.
Universitäten sind Orte der Vielfalt und Toleranz – zumindest sollten sie das sein. Junge Menschen sollen hier lernen, den Blick über den Tellerrand zu wagen, ja, sich selbst kritisch zu reflektieren. Wenn den Studierenden jedoch nicht einmal die Vielfalt der eigenen Disziplin nahegebracht wird, wie kann man von ihnen erwarten, einen differenzierten Blick auf die Welt zu entwickeln? Tatsächlich ist die Vormachtstellung der Neoklassik in den Wirtschaftswissenschaften so prägend wie kaum ein Paradigma für eine andere Wissenschaft. Vom Blick über den Tellerrand kann nicht die Rede sein. Stattdessen reproduziert sich die orthodoxe Standardlehre selbst – ganz zur Freude marktgläubiger Unternehmer und (neo-)liberaler Politiker.
One world, one truth?
Mankiw, Varian, Blanchard – Vorhang auf für die Autoren der „großen“ Lehrbücher unserer Zeit, auf der ganzen Welt als heilige Schriften der ökonomischen Lehre gehandelt. Allesamt unterstellen die Richtigkeit des neoklassischen Standardmodells. Grundsätzlich mag ein solcher globaler Lehrbuchkanon unproblematisch sein, wenn in diesen Werken aber Dinge als unumstößliche Wahrheiten präsentiert werden, die durchaus kritikwürdig sind, gleicht das einer paradigmatischen Gehirnwäsche. Von der ökonomischen Denkweise oder dem Verhaltensmodell zu sprechen, suggeriert eine Allgemeingültigkeit, die es in der Ökonomik so nicht gibt. Zum Glück! Stattdessen hat die VWL ein schillerndes Spektrum an unterschiedlichen Denkschulen zu bieten – traurig, dass nicht einmal deren Existenz thematisiert wird.
Sein oder Nichtsein
Was in anderen Sozialwissenschaften zum Selbstverständnis gehört, findet in der ökonomischen Lehre nur selten statt: die kritische Reflexion der eigenen Disziplin. Fächer wie Dogmengeschichte oder Wissenschaftstheorie lassen sich in den meisten Curricula nicht finden. Das Infragestellen gängiger Annahmen und Theorien wird den Studierenden ebenso wenig beigebracht wie die ökonomische Entstehungsgeschichte. Wie kann es sein, dass ein Seminar zum Thema Wachstumskritik für Studierende der Soziologie, nicht aber für VWL-Studierende angeboten wird? Warum wird die feministische Ökonomik an den Universitäten keines Blickes gewürdigt?
Variation oder Vielfalt?
Der Mainstream reagiert auf Kritik, erweitert Modelle, öffnet sich alternativen Ansätzen. Sowohl die Verhaltensökonomik als auch die Institutionenökonomik sind mittlerweile anerkannte Felder der VWL. Doch allzu oft wird die Variation innerhalb einer Theorie mit der Vielfalt an unterschiedlichen Theorien verwechselt. So stellt die Verhaltensökonomik zwar den Homo oeconomicus in Frage, eigene theoretische Annahmen werden jedoch nicht aufgestellt. Dadurch ist sie nicht als eigenständige Denkschule, sondern vielmehr als kritisierende Erweiterung zu begreifen. Mit Pluralität sind solche Bemühungen noch nicht gleichzusetzen.
Von der Ökologischen Ökonomik über den Ordoliberalismus bis hin zum Postkeynsianismus – die Existenz anderer ökonomischer Denkschulen zu leugnen, verbaut der VWL die Chance, auf die konkreten Probleme unserer Zeit zu reagieren. Spätestens seit der jüngsten Finanzkrise sollte klar sein: der Markt ist nicht Gott und Krisen existieren sehr wohl. Denken wir an die Ratlosigkeit der Ökonomen im Zuge der Finanzkrise, sollte uns daran gelegen sein, sie in Zukunft mit weit mehr auszustatten als der neoklassischen Finanzmarkttheorie.
Im November 2011 verließen zahlreiche Studierende der Eliteuniversität Harvard eine Einführungsvorlesung ihres Professors Gregory Mankiw, um gegen die Einseitigkeit seiner ökonomischen Lehre zu rebellieren. Die Frage ist, wieso wir noch sitzen!
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