Zurück in die Zukunft: Wie Ludwig Erhard wieder wichtig werden könnte

Die Soziale Marktwirtschaft ist in der Krise. Was früher revolutionär, mutig, sozial war, dient heute jeder beliebigen Marktkraft als Steigbügelhalter für wirtschaftsliberale Politik. Auf Erhard berufen, zieht immer. Der Name beschwört Bilder herauf: Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, Wohlstand für alle! Aber: Der Glanz ist ab. Die Menschen denken bei Sozialer Marktwirtschaft nicht mehr an Wohlstand und Aufschwung, sondern an Arbeitgeberverbände, Neoliberalismus und Lobbyvereinigungen. Und das ist leider nicht nur ein Imageproblem. Die Soziale Marktwirtschaft wurde gekapert und droht sich selbst in die Bedeutungslosigkeit zu manövrieren.

Falsche Freunde und verpasste Gelegenheiten

Drei Viertel der Deutschen finden, die Soziale Marktwirtschaft funktioniere nicht mehr wie früher. Sie stehe für den Kampf gegen einen Mindestlohn, für Steuererleichterungen für Firmen und für ein Bremsen beim Umweltschutz. Wenn ihre Unterstützer die Sozialen Marktwirtschaft tatsächlich so rückwärtsgewandt interpretieren, dann erwiesen sie ihr und Deutschland insgesamt einen Bärendienst. 

Um die aktuell mangelnde gesellschaftliche Gestaltungskraft der Sozialen Marktwirtschaft zu verstehen, hilft es, darauf zu schauen, wofür sie nicht steht. Die weißen Flecken. Ludwig Erhard selbst, einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, charakterisierte diese als ein Instrument, das die effiziente Verwirklichung verschiedenster Ziele ermöglichen könne. Welche das sind, muss die Gesellschaft gemeinsam entscheiden. Nach dem Krieg waren die Ziele klar abgesteckt. Diese Zeiten sind vorbei. Die Welt ist eine völlig andere und es wurde verschlafen, Ziele und Werkzeuge zeitgemäß neu auszurichten. Wir müssen kein zertrümmertes Nachkriegsdeutschland mehr aufbauen. Die heutigen Herausforderungen sind soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und eine durch die Digitalisierung und Automatisierung getriebene Neuausrichtung der moralischen Werte, Arbeitskultur und Work-Life-Balance. 

Alle diese Themen sind von linken Parteien besetzt. Konservative Kräfte sind mit der Verwaltung des Status quo beschäftigt. Nirgendwo zeigt sich die Kluft zwischen konservativ-liberalem wirtschaftspolitischem Denken und der Realität deutlicher als in Umweltfragen. Die Bewahrung von Schöpfung und Natur, eine ehemals urkonservative Kompetenz, verstehen die Nachfolger Erhards als Hindernis für freie unternehmerische Entfaltung. Das ist nicht nur ökologisch dramatisch, sondern auch ein parteipolitischer Fehler. Denn die Verbindung aus Freiheit und Ökologie nach sozialen, marktwirtschaftlichen Prinzipien hat eine Wählerschaft. Kaum einer verkörpert diesen Politikstil so sehr wie Winfried Kretschmann – ein Grüner, der im März 2021 wieder einmal Rekordwerte bei den Landtagswahlen holen konnte. Im traditionell konservativen Lager bleibt es still. Dabei gäbe es viel zu sagen. 

Erhard ist heute

Zunächst aber muss schonungslos konstatiert werden: Die Soziale Marktwirtschaft hat den Anschluss an die Gegenwart verloren und wird von Interessensgruppen für eigene Zwecke missbraucht. Es braucht eine Neuausrichtung. Die Inspiration für diese liefert ihr Erfinder. Erhard war in vielerlei Hinsicht fortschrittlicher als seine heutigen Vertreter. 

„Die Steigerungsrate des Bruttosozialprodukts kann daher kein sinnvolles Ziel einer sozialprogrammierten Marktwirtschaftspolitik sein.“ 

Das schreiben nicht etwa linke Postwachstumsökonomen, die den ökologischen Kollaps fürchten, sondern Erhard und sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack in ihrem Manifest „Soziale Marktwirtschaft, Ordnung der Zukunft“ (1972, S. 149). Sie plädieren für ein Sich-Lösen vom Wachstumszwang, erkennen, dass mit zunehmender Technologisierung und sinkender Notwendigkeit zu arbeiten andere Dinge wichtiger werden. Schon in „Wohlstand für alle“ (1957, S. 233) hatte Erhard gefragt, ob es nicht sinnvoller sei, „unter Verzichtleistung auf […] diesen ‚Fortschritt‘ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr […] Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“ Spätere Jünger Erhards sparen diese Teile gerne aus. Der ehemalige Unionsabgeordnete Herbert Gruhl beschrieb diese Interpretation bereits 1983 als „Verrat an Ludwig Erhard“. 

Es braucht ein marktwirtschaftliches Gegengewicht zur aktuellen Tendenz, an allen Fronten staatliche Interventionen zu fordern. Das kann nur glaubwürdig gelingen, wenn sich die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft nicht mehr zum Spielball von Lobbyinteressen machen lassen und aufhören, die Augen vor den massiven sozialen und ökologischen Problemen zu verschließen, die unser Wirtschaftsstil verursacht hat. 

Soziale Marktwirtschaft kann eine Antwort auf diese Fragen liefern. Das Verrückte ist: Dazu muss sie sich nicht radikal erneuern, sondern vielmehr zurückbesinnen. Erhard erkannte die großen Trends frühzeitig. Raus aus dem ideologiebehafteten Schubladendenken: Lesen wir Erhard neu – mutig, unvoreingenommen, offen. 


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