Die Menschheit und der Kapitalismus – das war lange eine gemeinsame Erfolgsgeschichte. Die Armut wurde besiegt und Wohlstand für alle geschaffen. Aber die Liebe bröckelt. In der reichsten Welt aller Zeiten sind über die Hälfte der Menschen der Meinung: Kapitalismus richtet in der jetzigen Form mehr Schaden als Nutzen an! Was ist passiert?
Die Entfremdung
Kapitalismuskritik war schon immer beliebt. Hierzulande resultierte der Wunsch nach Veränderung in einem deutschen Nationalheiligtum: der Sozialen Marktwirtschaft. Aber es würde sich lohnen, das Sektglas beiseite zu stellen und hinzuschauen. Denn in den letzten Jahrzehnten ist etwas passiert: Das große Versprechen – „unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir“ – wird nicht mehr eingelöst. Große Teile der Bevölkerung nehmen nicht mehr am Wirtschaftswachstum teil. In Deutschland – dem viertreichsten Land der Erde – suchen Opas im Müll nach Pfandflaschen, ist jedes fünfte Kind von Armut bedroht und 10 Prozent der Bevölkerung haben heute weniger Realeinkommen als im Jahr 1990. Aktuell lässt sich bestaunen, wie selbst während der größten Krise der Nachkriegsgeschichte Wohlhabende reicher werden, während es für Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger außer Beifall nicht viel gibt.
Gleichzeitig treiben menschengemachter Klimawandel, Artensterben und Ressourcenausbeutung die ökologischen Systeme an den Rand des Kollapses. Wir müssen etwas grundsätzlich ändern: sozial und ökologisch.
Das Scheitern der Eigenverantwortung
Viele liberale Grundsätze, auf denen unsere Marktwirtschaft gründet, sind in Vergessenheit geraten. Liberalismus bedeutet eben nicht, dass jeder beliebig tun und lassen kann, was er will. Nein, Freiheit geht immer mit Verantwortung einher! Diese fast banale Erkenntnis wird in Zeiten von Corona plötzlich greifbar. Wir sehen, dass Freiheit nur funktioniert, wenn die Menschen sie mit Augenmaß, Selbstbeherrschung und Eigenverantwortung ausüben. Leider zeigt die Pandemie auch, dass es damit nicht weit her ist.
Wer die Grenzen des gerade noch Erlaubten nicht ausreizt, ist der Dumme. Während manche seit Monaten ihre Wohnung nur zum Einkaufen verlassen, kommen andere gerade aus ihrem Urlaub auf Mallorca zurück. Erlaubt war‘s ja – und mehr Spaß macht‘s allemal. Ähnliche Muster finden wir in der Wirtschaft: Steuern zahlen? Panama Papers, Schweizer Konten und Cum-Ex-Geschäfte zeigen: wer kann, verzichtet darauf gerne. Verantwortungsvolles Agieren auf den Finanzmärkten? Warum? Die Institute können darauf vertrauen, zur Not in „alternativlosen“ Rettungsaktionen aus dem selbstverschuldeten Dilemma befreit zu werden. Rücksichtsvoller Umgang mit Klima, Rohstoffen und Tieren? Dieselskandal, Glyphosat, Abholzung des Regenwalds und schleichende Energiewende.
Einzelne mächtige Interessensgruppen setzen ihre Eigeninteressen bis zum Äußersten durch. Verantwortungsbewusstsein? Fehlanzeige. Hinter maßloser Profitmaximierung steht das Allgemeinwohl hinten an. Die Kosten tragen am Ende Mensch und Natur.
Die Kraft, sich über diese Verfehlungen angemessen zu ärgern, hat schon lange niemand mehr. Sicherlich auch, weil wir mit unserem eigenen Verhalten ebenso nachlässig sind: Billige Klamotten, ein kleiner Flug, das günstige Stück Fleisch.
Regeln geben Sicherheit
Ob auf gesamtgesellschaftlicher oder individueller Ebene, ob im Straßenverkehr oder in der Wirtschaft: Regeln ermöglichen erst ein sinnvolles Zusammenleben. Weniger von ihnen machen nicht automatisch freier. Sie müssen nur gut sein. Ansatzpunkte gäbe es reichlich: Lobbygesetze, Umweltschutz, Unternehmensbesteuerung. Darüber hinaus braucht es unabhängige Kontrollinstanzen und, bei Verstößen, wirksame Bestrafungsmechanismen. Das wäre nicht nur gerecht, sondern auch wirtschaftlich effizient. Denn bekanntermaßen liefern Märkte nur dann optimale Ergebnisse, wenn ihre inhärenten Unzulänglichkeiten ausbalanciert werden.
Nicht weniger als das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Kapitalismus steht auf dem Spiel. Denn – so unbeliebt der Begriff sein mag – der Kapitalismus ist der effizienteste Mechanismus zur Mehrung des Wohlstandes. Damit er das bleibt, muss er sich reformieren und sozialer sowie ökologischer werden.
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