Hätte er sich besser festgebunden. Der Finanzminister verfällt weiterhin der Illusion, eine simple Lösung für ein komplexes Problem gefunden zu haben: Christian Lindner will eine „vorurteilsfreie“ Bewertung der Nutzung von Atomenergie. Damit steht er nicht allein da. Auch innerhalb der EU streitet man weiter darüber, ob Atomkraft tatsächlich als „grün“ eingestuft werden darf, um die ambitionierten europäischen Klimaziele zu erreichen.
Gerne wird mit dem Finger auf andere gezeigt, um sich aus der alleinigen Verantwortung zu ziehen. So werden Pläne des französischen Präsidenten Macron aufgeführt, der den Bau von 14 neuen Atomkraftwerken für 50 Milliarden Euro ankündigte. Auch die USA, China, Schweden und weitere Staaten pumpen fleißig Geld in die nukleare Technologie und lassen sich vom Sirenengesang der scheinbar CO2-neutralen Stromgewinnung verführen.
Natürlich ist es wahr, dass beim Prozess der Kernspaltung kein Kohlendioxid ausgestoßen wird. Allerdings macht diese nur einen geringen Teil des Stromgewinnungsprozesses aus. Das für die Spaltung benötigte Uran muss gewonnen, transportiert und nach der Nutzung eingelagert werden. Dabei werden die Konstruktion und der Rückbau der Anlagen selbst nicht berücksichtigt, welche nicht nur CO2-, sondern auch geld- und zeitintensiv sind. Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme zufolge ist die Stromerzeugung bei Atomstrom mit 14-19 Cent pro Kilowattstunde um ein Vielfaches teurer als bei der Wind- und Solarenergie, die auf 4-8 bzw. 2-6 Cent/kWh kommen.
Unter Einbezug der Kosten für Gesundheit, Umwelt und Klima, die mit der Herstellung von Atomstrom einhergehen, steigt der Preis für den vermeintlich sauberen und kostengünstigen Atomstrom auf über 90 Cent an! Müssten diese Kosten vollständig in die Kalkulation der Atomstromproduzenten eingepreist werden, würde sich die Herstellung wohl nicht mehr rechnen.
Selbst bei einer Lösung aller Probleme der Endlagerung, Uranversorgung und Finanzierungskosten bliebe ein zentrales Problem bestehen. Von der Planung über die Genehmigung bis zur Konstruktion eines Atomkraftwerks vergehen in der Regel 15 bis 20 Jahre, fünfmal so viel Zeit wie bei Wind- und Solaranlagen. Da der Klimawandel nicht wartet und die nächsten zehn Jahre entscheidend sind, können wir uns eine lange Wartezeit nicht leisten.
Es ist ohnehin zynisch, im Zusammenhang mit Atomstromgewinnung mit dem Klimawandel zu argumentieren. So sollen die kommenden Generationen vor einer existenziellen Bedrohung des Klimawandels bewahrt werden, auf deren Entstehung sie keinen Einfluss hatten. Dieselbe Argumentation muss für die Überreste der nuklearen Energiegewinnung gelten: Folgegenerationen werden über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende mit einer Problematik belastet, für welche über 65 Jahre nach Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Kernkraftwerks noch immer keine Lösung gefunden wurde. Hier darf man nicht mit zweierlei Maß messen! Statt ein Problem durch ein anderes zu ersetzen, müssen nachhaltige Lösungsansätze verfolgt werden. Jeder Euro, der in den Ausbau von Nukleartechnik investiert wird, kann und sollte sehr viel besser in die Erforschung echter CO2-neutraler Energien fließen.
Immer wieder hört man derzeit den Hinweis auf eine vermeintliche energetische Unabhängigkeit, die durch Atomstrom gewährleistet werde. Da die EU seit Russlands Überfall auf die Ukraine versucht, ihre Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu verringern, erscheint dies vernünftig. Ironischerweise werden jedoch große Mengen des in Europa benötigten Urans ausgerechnet aus Russland importiert. Diese sind nur schwerlich zu ersetzen, insbesondere im Falle fertiger Brennelemente. Diese werden vor allem in den ehemals sowjetischen EU-Mitgliedsstaaten eingesetzt und sind so unersetzlich, dass für deren Import sogar stillschweigend das europäische Flugembargo umgangen wird!
Die Atomkraft-Renaissance ist nur auf den ersten Blick eine attraktive Lösung. Schaut man genauer hin, zeigt sie ihr hässliches Gesicht. Die Politik darf nicht dem Gesang der Sirenen verfallen, sondern muss anstelle von kurzfristigem Wunschdenken nachhaltige Lösungsansätze entwickeln.
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