Migrationsdebatte: Mit Vernunft gegen Populismus

Jeder neue Einwanderer kostet den Staat 1.800€. Oder bringt er 3.300€ jährlich? Die vermeintlich aufklärerische Debatte um die fiskalische Bilanz der Zuwanderung ist nicht nur ohne Relevanz, sie birgt sogar die Gefahr, den gegenwärtigen Populismus in der Migrationsdebatte zu befeuern und den Staat somit von dringenden Reformen abzuhalten.

Das deutsche Sozialsystem ist in Gefahr! Und was haben die Einwanderer damit zu tun? Wirft man einen Blick in deutsche Zeitungen, so werden sie zugleich als Hoffnungsträger und Gefahr präsentiert. Das ohnehin sensible Thema Einwanderung ist zum Gegenstand einer populistischen Debatte über die soziale Sicherheit geworden, die von den Ängsten der Bürger getrieben wird. Überwiegend besteht die Überzeugung, dass Einwanderer unsere Sozialsysteme belasten. Eine Bertelsmann-Studie über den Beitrag von Einwanderern zum Staatshaushalt versuchte Ende 2014, neue Klarheit in die Debatte über die Wirkung von Zuwanderung zu bringen. Ihre Botschaft lautete: Die Angst vor Zuwanderung ist unberechtigt, weil Einwanderer in Wirklichkeit eine positive Wirkung auf Deutschland haben. Dieses Ergebnis führte zu einer gesellschaftlichen Debatte, die den Wert von Migration zu einem Rechenspiel machte, das sich allein auf die fiskalische Migrationsbilanz beschränkt. Stattdessen bräuchte es aber eine Debatte über konkrete Reformen, die das Potenzial, das in der deutschen Einwanderung steckt, endlich zutage fördert.

Das Märchen vom Sozialschmarotzertum

Das Schreckensszenario lautet: Arme Migranten kommen massenhaft nach Deutschland, um sich auf Kosten der hart arbeitenden Mittelschicht ein schönes Leben zu machen. Der „Sozialschmarotzer“ war schon immer ein beliebtes Feindbild, um unzufriedene Bürger für die eigene politische Idee zu gewinnen. Es ist die Rede von Armutseinwanderung oder Einwanderung in die Sozialsysteme, womit der Anschein erweckt wird, es gäbe schlechte und gute Einwanderer, und, dass man in der Lage wäre, zwischen ihnen zu unterscheiden. Den etablierten Medien und Politikern wird dabei vorgeworfen, die Folgen schlechter Einwanderung politisch zu tabuisieren. Tatsächlich sind die ökonomischen Auswirkungen der Einwanderung abhängig von einer Vielzahl sozialer, politischer und administrativer Faktoren. Der Versuch, die Schuld den mehr oder weniger gebildeten oder integrationswilligen Einwanderern in die Schuhe zu schieben, ist das Ergebnis des Bedürfnisses nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen.

Schon die Frage danach, ob sich Zuwanderung lohne oder nicht, mag so gar nicht zum deutschen Selbstbild passen, welches spätestens seit der WM 2006 und der seitdem bemerkenswert gestiegenen Attraktivität des Landes für Zuwanderer zur Marke werden sollte. Entsprechend empört ist man auch über den Unwillen der Montagsspaziergänger und AfD-Wähler, den Status des multikulturellen Deutschlands und gastfreundlichen Einwanderungslands anzuerkennen. Kurt Beck, ehemaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, schwärmt geradezu von Gegendemonstrationen gegen Pegida und Co. als ein Zeichen der demokratischen und positiven Empörungskultur in Deutschland. Transparente für Vielfalt und gegen Rassismus werden hoch gehalten. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Gegendemonstranten zeigt deutlich, dass Offenheit und Toleranz gegenüber Migranten in den Wertekonsens der deutschen Bürger übergegangen ist.

Sich im Kampf gegen die populistische Instrumentalisierung in politischer Untätigkeit auf die demokratische Selbstregulierung zu verlassen, wäre jedoch fatal. Ideologen interessieren sich nur dann für die Mehrheit, wenn diese ihre Meinung teilt. Und so lange Märchen wie das des Sozialschmarotzers aus Osteuropa auf fruchtbaren Boden fallen, wird die öffentliche Debatte um Einwanderung weiter von Ideologen instrumentalisiert werden können.

Die Bertelsmann-Studie schaffte daher vermeintlich endlich Fakten gegen dieses Märchen. Einwanderer brächten dem Sozialstaat demnach netto mehr Geld als sie ihn kosten, so die eindeutige Schlussfolgerung. Diese perfekte Antwort auf die AfD-Forderung, Einwanderung in die Sozialsysteme zu verhindern, war daraufhin auch in allen großen Zeitungen nachzulesen. Die Ängste schienen ein für alle mal widerlegt, hätte sich der Ifo-Chef Hans-Werner Sinn die Studie nicht noch einmal genauer angesehen. Er rechnete genau nach – dieses Mal einschließlich der anteiligen allgemeinen Staatsausgaben wie Verteidigung, Infrastruktur, Rechtssystem usw. – und fand ein dickes Minus vor der fiskalischen Gesamtbilanz: Nun kosteten uns die Migranten eine vierstellige Summe pro Kopf und Jahr. Die Einwanderer sind im Durchschnitt also wieder schlecht. Zumindest für die Staatskasse.

Falsche Antworten auf die falschen Fragen

Dieses Hin- und Hergerechne ist vor allem ein Ausdruck einer medial gewünschten Vereinfachung der Migrationsdebatte auf die Frage, ob Einwanderer – in einer einzigen Zahl ausgedrückt – das Sozialsystem belasten oder nicht. Anstatt die Diskussion auf eine dem Gegenstand angemessener Ebene zu bringen, wird versucht, die populistische Forderung nach der Befriedigung bürgerlicher Ängste durch stark vereinfachte Antworten zu entkräften.

Der fiskalische Effekt, vergleicht man ihn zum Beispiel mit den möglichen Effekten auf dem Arbeitsmarkt, gehört tatsächlich zu den unbedeutenden wirtschaftlichen Effekten der Migration. Unter Berücksichtigung aller Faktoren vermutet sogar Sinn einen großen Gewinn durch Einwanderung. Was nach einem öffentlichen Bewusstseinswandel klingt, ist nicht mehr als kluges Taktieren. Der Medienprofi Sinn weiß genau, wie er seine Meinung öffentlichkeitswirksam platziert. Seine Forderungen nach einer Reformierung der Migrationsgesetzgebung hätten außerhalb der medienwirksamen Diskussion um AfD und Pegida nie so viel Aufmerksamkeit gefunden. Er tritt als Stimme der ökonomischen Vernunft auf und fordert schließlich eine ideologiefreie und nicht vom Streben nach politischer Korrektheit getriebene Debatte. Denn so wie die Einwanderungspolitik läuft, laufe sie falsch, so Sinn. Deutschland hole durch die Anreize des Sozialstaates gering qualifizierte Arbeitskräfte ins Land, was zu Umverteilungseffekten zu Lasten von Geringverdienern führe. Im Mittelpunkt sollte vielmehr die qualifizierte Zuwanderung stehen, die am besten durch ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild gewährleistet werden könne.

Dass die Realität aber nicht immer der wirtschaftswissenschaftlichen Logik gehorcht, war in den letzten Jahren in eben jenem Kanada zu beobachten. Das Land mit den am höchsten qualifizierten Zuwanderern weltweit hat sich zu Jahresbeginn nämlich von seinem alten Einwanderungssystem verabschiedet. Zwar hat Kanada den größten Anteil qualifizierter Einwanderer, die Arbeitslosenquote unter Migranten mit Universitätsabschluss beträgt jedoch stattliche 12 Prozent und unterscheidet sich damit nicht von der Quote bei den geringer qualifizierten Einwanderern. Insgesamt liegt die Arbeitslosenquote von Akademikern in Kanada mit 4,6 Prozent nahe der Vollbeschäftigung.

Die öffentliche Forderung des Wirtschaftswissenschaftlers nach einer ideologiefreien Debatte ist wichtig. Zu dieser Debatte hat er aber leider nicht viel Innovatives beizutragen. Und so gelingt es ihm nicht, den Fokus vom fiskalischen Nutzen von Einwanderern auf die wirklich wichtige Frage nach einer funktionierenden Migrationspolitik zu lenken. Wie die Protagonisten aus Douglas Adams legendärem Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“, die die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ von einem Supercomputer nach Millionen Jahren Rechenzeit mit der Zahl 42 beantwortet bekommen, haben uns die ökonomischen Welterklärer eine Zahl geliefert. Das nützt aber wenig, solange wir nicht die richtigen Fragen kennen. Diese Fragen müssen sich an der Einwanderungsrealität orientieren und daran, welche Rolle Einwanderer in unserer Gesellschaft zukünftig spielen können und sollen.

Das Einwanderungsland, das (noch) keines sein möchte

Wie Sinn – diesmal ganz ideologiefrei – analysiert, hat Deutschland aufgrund des Bevölkerungsschwunds gar keine andere Wahl, als mehr Migranten in das Land zu lassen. Noch im Jahr 1982 stand für Helmut Kohl fest: „Deutschland ist kein Einwanderungsland“. Gemessen an den Migrationsströmen ist es das jedoch spätestens seit der massenhaften Anwerbung von Gastarbeitern in den 1950er und 1960er Jahren. Trotzdem benötigte das Zuwanderungsgesetz vier Jahre kontroverser politischer Auseinandersetzung, bis es im Jahr 2005 in Kraft treten konnte. Vor allem auf Druck der CDU hat eine Öffnung gegenüber Zuwanderern nicht stattgefunden. Das Gesetz beinhaltet weder eine gezielte Anwerbung von Einwanderern, noch Instrumente zur Lenkung der Art der Einwanderung. Deutschland ist zwar faktisch das inzwischen zweitgrößte Zuwanderungsland der Welt, verfügt jedoch bei weiten nicht über die nötigen politischen Instrumente. Die Politik hat seither die Offenheit gegenüber Einwanderern und deren Integration gefördert. Ein offener Diskurs über eine neue Einwanderergesetzgebung wurde jedoch vermieden, und damit wurde ein politischer Freiraum für populistische Debatten geschaffen. Nun hat CDU-Generalsekretär Peter Tauber mit dem Vorschlag eines neuen Einwanderungsgesetzes, das deutlich über das bestehende Zuwanderungsgesetz hinausgehen würde, die Debatte endlich aus dem politischen Niemandsland geholt.

Tatsächlich sind die Voraussetzungen, nun Fakten zu schaffen, so gut wie nie. Die Deutschen stehen allgemein Einwanderern immer offener gegenüber. Die Bedeutsamkeit für das deutsche Rentensystem ist umfassend diskutiert worden. Unabhängig vom Grad der Qualifikation versprechen Einwanderer für die Wirtschaft und für die alternde deutsche Gesellschaft mehr Chancen als Risiken. Der Theorie müssen nun Fakten folgen! Schon jetzt haben Migranten durch Gründungen 2,2 Millionen Jobs geschaffen. Trotzdem unterliegen sie noch immer einem erschwerten Zugang zu Finanzierungen. Einzelne Maßnahmen wie das Anerkennungsgesetz ausländischer Abschlüsse haben dagegen schon erste Erfolge gezeigt. Ein Konzept zur systematischen bundesweiten Förderung von Migranten im Arbeitsmarkt existiert jedoch nicht.

Die Migrationsdebatte steht an einem Scheideweg. Entweder sie begnügt sich weiter mit fragwürdigen Diskussionen um die fiskalische Bilanz oder die wie auch immer gemessene Qualifikation von Einwandern. Oder sie entwickelt endlich die Vision eines echten Einwanderungslandes. Einwanderer sind keine Bürde, mit der man umzugehen hat, sondern eine Investition in die Zukunft. Wie profitabel diese Investition sein wird, sollte Deutschland jedoch nicht mehr dem Zufall überlassen. Ein erster Schritt wäre die ernsthafte Diskussion um ein deutsches Einwanderungsgesetz.


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