Am 23. Juni 2016 wird ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union abgehalten. So emotional die Debatte darüber geführt wird, aus rein ökonomischer Sicht spricht wenig für einen Austritt.
Eine skeptische Einstellung gegenüber der EU zu haben, ist kein exklusives britisches Phänomen. In vielen europäischen Ländern, etwa in Polen, gewinnen anti-europäische Parteien die Gunst der Wähler. Doch hat die EU-Skepsis in Großbritannien eine lange Tradition, denn der Erhalt der nationalen Entscheidungssouveränität ist den Briten ein äußerst wichtiges Gut und sollte auch durch die Mitgliedschaft in einem Staatenbund möglichst nicht eingeschränkt werden. Aus diesem Grund hat Großbritannien schon häufig eine Sonderrolle in der Europäischen Union eingenommen. Beispiele hierfür sind die Beibehaltung der eigenen Währung oder die Nichtteilnahme am Schengener Abkommen und die damit verbundene Souveränität über die nationalen Grenzen. Mit David Camerons Ankündigung, am 23. Juni 2016 ein Referendum über den Verbleib des Landes in der EU abzuhalten, hat die Diskussion einen neuen Höhepunkt erreicht.
In Großbritannien hört man oft das Argument, dass das Land unverhältnismäßig viel für seine EU-Mitgliedschaft zahle. Schaut man sich die größten Nettozahler in der Europäischen Union an, befindet sich Großbritannien als drittgrößte Volkswirtschaft hinter Deutschland und Frankreich mit 4,9 Milliarden Euro pro Jahr leistungsgerecht auf Platz 3. Gemessen an der Wirtschaftsleistung oder der Einwohnerzahl rangiert das Land jedoch nicht auf den vorderen Plätzen, sondern beispielsweise mit einem Pro-Kopf-Beitrag von knapp über 100 Euro gerade einmal auf dem achten Rang. Das Argument der Unverhältnismäßigkeit kann angesichts dieser Zahlen kaum überzeugen.
Diese Zahlen, die lediglich direkte Zahlungsströme zwischen der EU und den Mitgliedsländern abbilden, erwecken jedoch einen falschen Eindruck, denn die EU ist weitaus mehr als ein riesiger supranationaler Umverteilungsmechanismus für Steuergelder. In den Zeiten zunehmender Globalisierung bietet die Union aus ökonomischer Sicht weitere enorme Vorteile. Die wohl größte ökonomische Errungenschaft der Europäischen Union ist dabei der gemeinsame Binnenmarkt: Mit seinen 28 Mitgliedern und einem Bruttoinlandsprodukt von knapp 14 Billionen Euro ist er der größte Wirtschaftsraum der Welt. Die vier Grundfreiheiten des freien Warenverkehrs, der Personenfreizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und des freien Kapitalverkehrs garantieren einen grenzüberschreitenden Handel, der sehr unkompliziert und damit mit nur sehr geringen Transaktionskosten verbunden ist. Dies sorgt für eine effiziente Güterallokation und einen scharfen Wettbewerb, der die Preise zum Nutzen der Verbraucher niedrig hält.
Gerade aus diesen Gründen würde ein Austritt Großbritanniens aus der EU die britische Wirtschaft schwer treffen. Die Importe und Exporte Großbritanniens innerhalb der EU machen mit 44,6 bzw. 53,2 Prozent den Löwenanteil des britischen Außenhandelsvolumens aus. Wie sich diese Größen durch den Brexit verändern würden, ist schwer vorhersehbar, da es noch nie einen EU-Austritt gegeben hat. Die Unsicherheit über die zukünftigen Auswirkungen macht es den britischen Unternehmen, aber auch ihren kontinentaleuropäischen Partnern schwer, langfristig voraus zu planen und Investitionen zu tätigen. Es besteht die Gefahr, dass die Unsicherheit auch auf die Finanzmärkte übergreift und die Kreditvergabe einschränkt, was gerade die Londoner City, das wichtigste Finanzzentrum Europas, schwer treffen würde.
Mit dem Austritt aus der EU müssten desweitern alle bestehenden EU-Verträge, in die Großbritannien eingebunden ist, durch neue bilaterale Verträge ersetzt werden. Ähnlich wie bei der Schweiz ist es nur so möglich, am europäischen Binnenmarkt teilzuhaben. Dabei ist es geradezu illusorisch anzunehmen, dass ein soeben ausgetretenes Mitglied eine bessere Verhandlungsposition erreichen kann als zuvor. Nicht umsonst ist David Cameron schier unermüdlich darin, Europa von Großbritannien und Großbritannien von Europa zu überzeugen. Sind trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen die bilateralen Verträge abgeschlossen, ergeben sich weitere Probleme, denn ein gemeinsamer Binnenmarkt ist ein langfristiger und fortwährender Prozess des Wandels. Durch den Austritt aus der EU verliert Großbritannien sein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Binnenmarktes. Eine Anpassung eines EU-Großbritannien-Verträge wäre zwar möglich, geht aber immer von den dann geltenden Regeln in der EU aus. An diese müssten sich die Briten anpassen, weil der bilaterale Vertrag aus Sicht der EU von nachrangiger Bedeutung und damit das britische Drohpotential gering ist. Es ist genau die Möglichkeit einer solchen Situation, die das Argument ad absurdum führt, dass ein Austritt aus der EU die Vormundschaft Brüssels gegenüber Großbritannien beenden würde.
Denkt man die Folgen eines Brexit konsequent in die Zukunft, dann wird deutlich, dass der EU-Austritt Großbritanniens besonders stark auch zukünftige Generationen treffen wird und damit Menschen, die bei dem Referendum überhaupt nicht abstimmen dürfen. Umfragen zeigen, dass die britische Jugend einen Verbleib des Landes in Europa überwiegend befürwortet. Die EU-Skepsis ist vor allem bei älteren Generationen vorzufinden. Ein Wiedereintritt Großbritanniens in einigen Jahren, wenn die jungen Menschen wahlberechtigt geworden sind, ist zwar laut Artikel 49 des Vertrags von Lissabon rein rechtlich möglich, die Glaubwürdigkeit der britischen Regierung und Politik würde aber erhebliche Schäden nehmen, wenn sie ein unstetes Hin und Her bei der Frage der EU-Mitgliedschaft an den Tag legt. Daher wäre ein Brexit zumindest für eine sehr lange Zeit irreversibel.
Trotz bestehender direkter Kosten der EU-Mitgliedschaft stünden die Einsparungen durch einen Austritt in keinem akzeptablen Verhältnis zu den indirekten Kosten, die der Brexit zur Folge hätte. Die Entscheidung über einen Verbleib in der EU muss daher wohl überlegt sein und sollte nicht allein aus dem Bauch heraus geschehen. Winston Churchill, einer der Vordenker eines vereinten Europas und britische Ikone, hat Großbritannien stets als treibende Kraft im Entwicklungsprozess Europas gesehen, und es könnte sich für die Briten lohnen, sich an seine Worte aus dem Jahr 1946 zu erinnern:
„There is a remedy… It is to re-create the European Family, or as much of it as we can, and provide it with a structure under which it can dwell in peace, in safety and in freedom. We must build a kind of United States of Europe.“
Das Verlangen vieler Briten nach Reformen und Entscheidungssouveränität mag zwar berechtigt sein. Eine Veränderung Europas muss aber von innen heraus geschehen und nicht durch ein Auseinanderdriften der Mitglieder oder Auseinanderbrechen der gesamten Union. Der Brexit ist keine Lösung der bestehenden Probleme und Unzufriedenheit. Es ist ein Davonlaufen vor der Verantwortung und eine Flucht in ein Luftschloss, das sich früher oder später als eine isolierte Insel am Rande Europas entpuppen wird.
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